Julian Nida-Rümelin – Zur Aktualität der humanistischen Bildungsideale

Aktualität humanistischer Bildungsideale

Der Titel meines Vortrages lautet ‚Zur Aktualität der humanistischen Bildungsideale‘. Daher will ich jetzt zwei Schlaglichter werfen, welche die Aktualität der humanistischen Bildungsidee, die auf dem dargestellten Kern humanistischen Denkens beruht, deutlich machen. Dafür möchte ich zuerst einen Seitenblick wagen, der die politische Dimension der Bildungsideale deutlich macht:

Meiner Ansicht nach trifft die Diagnose zu, dass die Europäische Union in der Krise steckt. Damit meine ich weniger das alltägliche Funktionieren der europäischen Institutionen, sondern die Idee eines geeinten Europas als Movens der Integration. Diese Krise manifestiert sich bereits seit vielen Jahren, auch wenn jetzt der Reformvertrag ratifiziert wird und Europa noch einmal ‚die Kurve gekriegt‘ hat. Anzeichen dieser Krise war bspw. das Scheitern des Verfassungsvertrags von 2005. Und auch die Tatsache, dass wir alle nicht zu wissen scheinen, was eigentlich unsere Vision für die Zukunft ist – ob wir etwa ein Kerneuropa brauchen, um das sich gewissermaßen weitere Länder gruppieren,12 oder ob die jetzige Europäische Union sich nicht vielleicht doch eher in eine Freihandelszone verwandeln sollte mit offenen Grenzen nach Südosten und Osten wie etwa zu Ukraine und Türkei – ist ein Symptom der Krise Europas und seines Integrationsprozesses. Diese Diagnose werden die meisten von Ihnen wohl noch teilen, meine Erklärung dafür vielleicht weniger: Denn ich glaube, dass die aktuelle Krise des europäischen Integrationsprozesses damit zusammenhängt, dass die geistige Verfasstheit dieses Europas seit den großen Reden seiner Gründerväter – also von Monnet, De Gasperi, Adenauer und auch Schuman – keine prägende Rolle mehr für die Weiterentwicklung der Europäischen Union gespielt hat. Diese Entwicklung beginnt schon in den 50er Jahren mit den Römischen Verträgen, in denen es nur noch um Kohle und Stahl, d.h. um die Wirtschaftsgemeinschaft geht. Die Friedensordnung, die europäische Bildungs- und Wissenschaftstradition, die Idee, dass man wieder zusammenführt, was durch Nationalsozialismus und Stalinismus und viele andere Spaltungen und Kriege zerrissen worden ist – dies alles tritt in den Hintergrund. Tatsächlich ist es fast paradox (und dadurch auch faszinierend), dass sich dieses Europa, das sich primär an unmittelbar ökonomischen Interessen festmacht, letzten Endes doch als Friedensorganisation entpuppt. Denn der Europäische Friede hält, sogar dann noch, als die pax sovietica et americana nicht mehr fortbesteht. Doch auch wenn dies beachtlich ist, denke ich, dass Europa in einer geistigen Krise steckt. Hier kann und sollte der Humanismus wieder an Aktualität gewinnen. Denn worauf beruht eigentlich dieses Europa? Was ist die gemeinsame Identität dieses Europas? Meiner Ansicht nach ist sie in zwei antiken Quellen, nämlich der griechischen Vorstellung von Autarkie, Rationalität und Universalismus sowie der römischen Staats- und Rechtstradition verankert. Diese Elemente stiften die Gemeinsamkeit Europas. Denn wer behauptet, dass dessen Kern in der romanità begründet sei, der sagt letztlich (mehr oder weniger gelehrt und kaschiert), dass die katholische christliche Konfession Europa ausmacht – und damit grenzt er aus: Er grenzt den protestantischen Teil aus, er grenzt auch die autochtonen muslimischen Teile Europas aus, er grenzt die Agnostiker und Atheisten aus usw. So sollten die Grenzen Europas nicht bestimmt werden.13

Zweites Beispiel für die Aktualität humanistischen Denkens sind die aktuellen Herausforderungen im Bildungs- und Hochschulwesen. Hinter Humboldts zentraler Idee einer Reformuniversität, die immer noch erfolgreicher Exportartikel der deutschen Bildungsnation ist, steht eine große geistige Bewegung, die ihren Urheber in Immanuel Kant hat.14 Kant hat eine Schrift über den Streit der Fakultäten verfasst, die gewissermaßen den Nukleus bildet, aus dem die Reformuniversität entsteht, an deren Leitbild sich heute noch die führenden Universitäten weltweit orientieren. Kant argumentiert in dieser Schrift folgendermaßen15: Es gibt die drei oberen Fakultäten, nämlich die traditionell berufsorientierten Fakultäten der Theologie, Jurisprudenz, Medizin. Diese schließen an die Tradition des Mittelalters und der frühen Neuzeit an, denn in diesen Epochen war die Universität berufsfeldorientiert (um mit den Worten des aktuellen Bologna-Prozesses zu sprechen). Darüber hinaus gibt es noch die merkwürdige Untere Fakultät – eigentlich hervorgegangen aus quadrivium und trivium des Mittelalters –, die in der Regel philosophische Fakultät genannt wird. Dort geht es nicht um Ausbildung, sondern um Bildung. D.h. es geht nicht darum, bestimmte Fertigkeiten für einen Beruf zu erlernen, sondern um die Wahrheitssuche. Kant behauptet nun in seiner Schrift, dass man diesen Bereich, in dem es nur um das Streben nach Erkenntnis geht, ernst nehmen sollte. Und im Anschluss an Kants Manifest passiert in kürzester Zeit etwas Wundersames: Zu Schleiermachers Geburt gab es noch die alte Universität, zu seinem Tod hatte sich deren Struktur gewandelt und die oberste Fakultät war die philosophische geworden. Die berufsbildenden Bereiche spielten zwar nach wie vor eine Rolle, aber eher als untere Fakultäten. Aus dieser Veränderung der Universität entsteht eine Dynamik, die die rückständige Nation Deutschland an die Spitze aller Industrienationen weltweit geführt hat. Denn aus dieser Veränderung entsteht ein Innovationsschub, und eine technologische und ökonomische Entwicklung schließt sich an. So war Deutschland bis zum Ende des ersten Weltkriegs in bestimmten Bereichen, insbesondere in der Physik, die führende Wissenschaftsnation. Erst mit dem Aderlass durch die grausame Verfolgung und Ermordung der Juden hat sich Deutschland selbst von diesem Spitzenplatz vertrieben. Diese Spitzenstellung Deutschlands manifestiert sich unter anderem darin, dass bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs unklar war, wer als erster die Atombombe entwickeln würde – Deutschland oder die USA? Und die wissenschaftliche Kompetenz, die im Folgenden Amerika zu einer Supermacht aufsteigen ließ, ging in Teilen auf deutsche Immigranten zurück.

Wie ist diese wissenschaftliche Dynamik nun entstanden? Meiner Ansicht nach durch die Freiheit der Grundlagenforschung, Wahrheitssuche um ihrer selbst willen, sowie durch die persönlichkeitsbildende Rolle eines Studiums, das nicht auf unmittelbare Nutzanwendung ausgerichtet war, sondern auf Erkenntnis. All diese Faktoren wirkten sich am Ende wundersamerweise nützlich aus für Ökonomie, für Technologie, für Innovation und für den Staat. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass derjenige, der Wissenschaft, Grundlagenforschung und Studium vernützlicht und instrumentalisiert, um sie bestimmten Verwertungsinteressen zu unterwerfen, letztlich diese Interessen selbst konterkariert. Ich gebe zu, dass dieser Zusammenhang schwer zu glauben ist, aber ein Beispiel hilft, ihn plausibel zu machen: 1905 hat ein hochbegabter, wenn auch etwas merkwürdiger junger Mann seinen annus mirabilis. Seine früheren Schulnoten waren nicht besonders gut, ebenso wenig der Diplomabschluss seines Physikstudiums. Folgerichtig ist er nicht an der Universität untergekommen, sondern am Schweizerischen Patentamt. Dort hat er offenbar viel Zeit und holt immer wieder seine Texte aus der Schublade und bearbeitet diese während seiner Arbeitszeit. 1905 veröffentlich er nun eine ganze Reihe von Aufsätzen, die nicht der Mehrheitsmeinung der damaligen Physik entsprechen und weit ab von dem sind, was man damals für wohlbegründet hält. Zudem sind sie hochabstrakt und in ihren praktischen Implikationen wenig konkret. Die Aufsätze werden aber trotzdem publiziert – was unter heutigen Bedingungen kaum noch denkbar wäre. Die Rede ist natürlich von Albert Einstein. Nach der Veröffentlichung seiner wichtigen Aufsätze dauerte es noch viele Jahre bis zur Verleihung des Nobelpreises, bis international anerkannt wurde, dass sein Denken einen Durchbruch darstellt, der die Physik grundlegend verändert. Erst zwanzig Jahre nach Einsteins annus mirabilis wird klar, dass sich seine Einsichten zu großen Teilen technologisch verwerten lassen, insbesondere der fotoelektrische Effekt. D.h. die völlige Entlastung von irgendwelchen Nutzanwendungen hat einen Fortschritt der Wissenschaft ermöglicht, der am Ende doch von Nützlichkeit geprägt war. Mit diesem Beispiel will ich Kants und Humboldts Einsicht noch einmal verstärken: Es ist sinnlos, Wissenschaft, Forschung und Lehre steuern zu wollen. Ebenso ist es sinnlos zu glauben, man könnte Studium oder auch Schule auf Verwertbarkeit ausrichten und dadurch positive Effekte gewissermaßen gesteuert technokratisch hervor kitzeln. Das wird nicht möglich sein: Bildung, Wissenschaft und Forschung sind Prozesse nach ihren eigenen Gesetzen, autonome Prozesse und schließen somit an ein zentrales Element der griechischen Klassik und des humanistischen Denkens an. Es sind Prozesse, die sich von außen nicht steuern lassen. Wer es versucht, zerstört ihre Besonderheit. Bildung, die ausgerichtet ist auf Verwertbarkeit, ist keine Bildung mehr. Bildung, die ausgerichtet ist auf bestimmte messbare Ergebnisse – was in der amerikanischen Literatur ‚learning to the test‘ heißt – zerstört Bildung.