Latein und die Frage, „wie wir wieder eine Bildungsnation werden können“

Aus: Latein und Griechisch in Baden-Württemberg,1/2012

Vor wenigen Monaten ist ein neues Buch von Josef Kraus erschienen, das für Freunde einer soliden Gymnasialbildung eine wahre Fundgrube von Argumenten ist. Es hat den Titel: „Bildung geht nur mit Anstrengung. Wie wir wieder eine Bildungsnation werden können“.

In einem eigenen Kapitel – es trägt die Überschrift „Latein lebt!“ – hebt Kraus den Bildungswert des Faches Latein hervor. Autor und Verlag gaben uns freundlicherweise die Erlaubnis, dieses Kapitel abzudrucken. Wir möchten die Gelegenheit dazu nutzen, das Buch kurz vorzustellen.

Gegliedert ist das Bändchen in 33 knappe Kapitel, in denen eine jeweils an den Beginn gestellte These erläutert wird. Gleich die erste These nimmt den Titel des Buches auf: „Bildung ohne Anstrengung geht nicht.“ Kraus stellt dazu fest, in Deutschland greife seit einigen Jahrzehnten eine Erleichterungspädagogik um sich. „Progressive Pädagogen und Bildungspolitiker tun so, als gingen Bildung und Lernen ohne Anstrengung.“ Der mutter- und fremdsprachliche Wortschatz werde drastisch gekürzt, ein Auswendiglernen von Gedichten finde fast nicht mehr statt, das Einprägen von historischen oder geographischen Namen und Daten gelte als vorgestrig. Dem hält der Autor entgegen: Wer das Leistungsprinzip untergrabe, setze eines der revolutionärsten demokratischen Prinzipien außer Kraft. In unfreien Gesellschaften seien Geldbeutel, Geburtsadel, Gesinnung oder Geschlecht durchaus Kriterien zur Positionierung eines Menschen in der Gesellschaft. Freie Gesellschaften jedoch – dies betont Kraus – hätten „das Kriterium Leistung vor Erfolg und Aufstieg gesetzt“ (S. 15 f.).

Schon diese Gedanken zeigen, dass Josef Kraus nicht nur als Bildungsexperte schreibt. Er argumentiert als verantwortungsbewusster Staatsbürger. So betont er, dass von der Anstrengungsbereitschaft möglichst vieler Menschen auch die soziale Leistungsfähigkeit des Staates abhängig sei. Das Sozialprinzip könne „nicht über das Leistungsprinzip gestellt werden“ (S. 16). Ja, letztlich hänge die Zukunft des ganzen Landes im globalen Wettbewerb entscheidend von der Leistungsbereitschaft der Menschen ab (S. 16 f.).

Wer die klassischen Autoren der griechisch-römischen Antike schätzt, wird dieser Argumentation fast wie selbstverständlich zustimmen. Ein Grund dafür liegt vielleicht darin, dass es für große klassische Autoren der Antike wohl geradezu Ehrensache war, nicht Partikularinteressen zu vertreten, sondern vom Gemeinwohl her zu denken. Auch bei der Darstellung unserer Fächer können wir ja nicht mit ihrer Leichtigkeit werben, sondern wir argumentieren mit ihrem vor allem langfristigen Wert für den Einzelnen und für die Gesellschaft insgesamt.

In allen 33 Thesen geht es dem Autor um die Korrektur von Fehlentwicklungen, die das Qualitätsniveau unserer schulischen Bildung nach unten ziehen. Die Verursacher dieser Entwicklung sieht er auf verschiedenen Seiten. Gegen die angeblich „progressiven“ Gleichmacher richtet sich z. B. die These: „Wir brauchen schulische Vielfalt statt integrierte Einfalt.“ Gegen die Wirtschafts-Lobby: „Unser Schulsystem wird einem unsinnigen Beschleunigungswahn ausgesetzt.“ Gegen didaktische Heilspropheten: „Die Reform-pädagogik bedarf dringend einer Entzauberung.“

Aber die meisten Thesen des Autors betreffen Fehlentwicklungen, für die nicht nur eine Seite die Schuld trägt; auch dafür nur wenige Beispiele: „Die Politiker müssen wieder die volle Verantwortung für ihre Schulreformen übernehmen.“ – „Die Integration von Migrantenkindern ist eine wichtige Zukunftsaufgabe.“ – „Wir brauchen eine Offensive für das Schulfach Deutsch.“ – „Das Fach Geschichte muss aufgewertet werden.“

Das 29. Kapitel hat den Titel „Latein lebt!“. Was Josef Kraus dazu schreibt, dürfte viele Leser besonders interessieren. Hier folgt nun das ganze 29. Kapitel dieses Buches (S. 92 f.):

H.M.

Josef Kraus

Latein lebt!

In Zeiten eines reichlich utilitaristischen Bildungsdenkens hat eine – vermeintlich – tote Sprache schlechte Karten. Dem stehen allerdings gewichtige Argumente entgegen, die offenbar bei wieder mehr Eltern eine Rolle spielen. Bildung hat nämlich zu tun mit Reflexion und Nachdenklichkeit. Bildung hat zu tun mit Distanz zum Tagesgeschehen und mit Freiheit im Urteilen. Gerade mit Latein wird man das erwerben können, was in Sonntagsreden gefordert wird: Konzentration, Ausdauer, Sorgfalt, Unterscheidungsvermögen, Prägnanz im Ausdruck.

Der „Lateiner“ wird eher gewappnet sein gegen eigene Geschwätzigkeit und gegen die Geschwätzigkeit anderer. Dass der Lateiner durch Latein zudem eine Schärfung seiner muttersprachlichen Kompetenzen erfährt, ist zwar kein Ruhmesblatt des Deutschunterrichts, aber es unterlaufen ihm dann wenigstens keine Schnitzer wie „Visas“, „Internas“ oder „das Optimalste“.

Vor allem hat der Lateinunterricht eine mehrfach propädeutische Funktion. Als europäisches Erbgut führt das Lateinische ein in europäische Geschichte, es wird damit zum Schlüssel für europäisches Denken. Man könnte sagen: Eine Gegenwart ohne Latein wird provinziell. Sie tauscht römische Weitsicht gegen das Spießertum des Hier und Jetzt ein. Latein ist sodann philosophisch-politische Propädeutik. Unsere Vorstellung von Staat und Gesellschaft, von Recht und Gerechtigkeit haben sehr viel zu tun mit libertas, lex, civitas, auctoritas, officium. Und Latein ist Schlüssel zur Sprache der Wissenschaft. 75 Prozent der deutschen Fremdwörter stammen aus dem Lateinischen. Wissenschaftliche Neologismen, gerade auch im Englischen, kommen ebenso von dort.

Das Lateinlernen demokratisiert damit die Fachterminologie, aus dem unverständlichen Fachchinesisch wird ein verständliches Fachlatein. Das gilt für die Sprache der Technik und der Medien (vgl. Reaktor, Radio, Video, Computer usw.) und im besonderen für die medizinische Terminologie; ein Arzt muss heute ca. 6.000 Termini kennen, die zu erheblichen Teilen aus dem Lateinischen stammen.

Latein ist schließlich Brücke zu europäischer Mehrsprachigkeit. Das gilt nicht nur für ein leichteres Erlernen der romanischen Sprachen Italienisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Rumänisch, sondern es gilt auch für das Englische, das zu fünfzig Prozent des gängigen Wortschatzes und zu mehr als sechzig Prozent des gehobenen Wortschatzes lateinische Wurzeln hat.

Aus: Josef Kraus, Bildung geht nur mit Anstrengung. Wie wir wieder eine Bildungs-nation werden können.
Classicus-Verlag Hamburg 2011. 9,90 €.

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