Theo Sommer (DIE ZEIT) – Latein und Griechisch? Heute erst recht!

Europa bedarf um seiner Zukunft willen „der Besinnung auf seine Wurzeln“. Dies ist die Grundthese des öffentlichen Vortrags, den der frühere Chefredakteur und Herausgeber der ZEIT am 3. April 2002 in Dresden auf Einladung des Deutschen Altphilologenverbandes hielt.

Es ist mir eine große Ehre, heute vor Ihnen sprechen zu dürfen. Allerdings gestehe ich gern, dass mich unmittelbar, nachdem ich dem beharrlichen Drängen von Herrn Dr. Meißner nachgegeben und seine freundliche Einladung angenommen hatte, das unabweisbare Gefühl beschlich, ich hätte dies in einem Anfall von Geistesabwesenheit getan. Ich bin kein Philologe, schon gar kein Altphilologe. Ich bin weder Lehrer noch Bildungspolitiker. Meinem akademischen Hintergrund nach bin ich Historiker, meinem Beruf nach seit fast einem halben Jahrhundert Journalist. Allenfalls kann ich zur Rechtfertigung meiner Zusage vorbringen, dass ich mich als Leitartikler, als Kommentator, als Zeitungsmacher stets brennend für jedwede öffentlichen Dinge interessiert habe – als Generalist indessen, nicht als Spezialist.

Dabei darf ich vielleicht drei mildernde Umstände geltend machen.

Zum ersten habe ich in der Oberschule einst sieben Jahre lang Latein gelernt. Viel später habe ich mich auch dem Griechischen genähert, wenngleich auf einem eher unorthodoxen Weg: durch Heirat nämlich mit einer Athenerin. Mein ältester Sohn hat ein altsprachliches Gymnasium besucht, ein anderer Sohn hat gerade an der Universität Heidelberg das Große Latinum nachgeholt, und meine 13jährige Tochter Katharina hat sich im vorigen Jahr aus freien Stücken entschieden, als zweite Fremdsprache nach dem Englischen nicht Spanisch oder Russisch zu nehmen, sondern Latein. Seitdem habe ich mich wieder ein Stück weit in die Feinheiten und Schönheiten dieser Sprache vertieft, auch in ihre Vertracktheiten. Vor vierzehn Tagen habe ich zusammen mit Katharina die Gründungssage Roms übersetzt. Es hat mich mit großer Befriedigung erfüllt, dass ich den Text des Livius noch immer ohne große Mühe grammatikalisch aufzuschlüsseln und ins Deutsche zu dolmetschen wusste: „Tunc et eo loco, ubi Faustulus geminos invenerat, urbem novam condere constituerunt. Sed quod uterque frater regnare cupivit, Romulus et Remus in foedum certamen venerunt. Romulus autem iratus fratrem interfecit.

Wir kamen dann auf eine andere Fratrizid-Geschichte zu sprechen, auf die biblische Geschichte von Kain und Abel. Gemeinsam übersetzten wir aus dem ersten Buch Mose, Kapitel 4.8: „Dixitque Cain ad Abel fratrem suum: Egrediamur foras. Cumque essent in agro, consurrexit Cain adversus Abel fratrem suum et interfecit eum.“ – „Und es begab sich“, in Luthers Eindeutschung, „da sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot“. An diesem Tage habe ich bei meiner Tochter kräftig gepunktet. Unwillkürlich dachte ich an den alten Goethe und seinen Vers aus dem „Zahmen Xenien“: „Du musst als Knabe leiden / dass Dich die Schule tüchtig reckt. / Die alten Sprachen sind die Scheiden, / darin das Messer des Geistes steckt“.

Der zweite mildernde Umstand, den ich vorbringen möchte, entspringt der Tatsache, dass ich von Berufs wegen ein Mann des Wortes, der Sprache, der Schrift bin – und als solcher den alten Sprachen verhaftet auch dort, wo ich Deutsch oder Englisch schreibe. Mir war das lange Zeit selber gar nicht klar, zumal ich mir etwas darauf zugute hielt, dass ich fast routinemäßig im letzen Durchgang der redaktionellen Bearbeitung aus jedem Manuskript alle unnötigen Fremdwörter herausstrich. Aber dann rechnete mir der Kieler Pädagoge Klaus Westphalen vor, dass ich in einem ZEIT-Leitartikel zur Jahreswende 1990/91 genau 91 Fremdwörter verwendet hatte, die aus dem Lateinischen stammen oder von ihm abgeleitet sind, dazu 26 Fremdwörter aus dem Griechischen, viele davon mehrfach – insgesamt 160mal ein Fremdwort aus dem antiken Kulturkreis. Der alphabetische Bogen reichte von Aggregat, Akt und Armee über Globus, Imperium, Reaktion und Reform bis hin zu Union und schließlich Zar. Westphalens Schlussfolgerung kann ich schwerlich widersprechen: „dass das lateinische Wortmaterial eine unverzichtbare Basis für subtile Kommunikation in den europäischen Sprachen bereitstellt“. Wer elaborierte Texte für intelligente Leser schreibt, der bleibt darauf angewiesen, dass ihm die Schule Leser heranbildet, die solche Texte verstehen.

Noch aus einem dritten Grunde wage ich es, vor Sie hinzutreten: Ich setze mich leidenschaftlich gern für Anliegen ein, bei denen den Verfechtern der Vernunft der Wind ins Gesicht bläst. Die alten Sprachen sind eine solche causa, für die es sich zu streiten lohnt. Der altsprachliche Unterricht steht überall unter Druck. Dieser Druck wird verstärkt von dem Ruf nach einer Straffung der Curricula, dem Drängen auf ein vermehrtes Angebot moderner Fremdsprachen, schließlich den vielfältigen Forderungen nach einem Ausbau der naturwissenschaftlich-mathematischen Fächer, auf die im Banne ökonomischer Nutzbarkeitserwägungen heute die bildungspolitischen Begehrlichkeiten gerichtet sind.

Der Raum für klassische Bildung wird seit langem ständig kleiner. Ich will diesen Befund mit zwei Beispielen belegen. Das erste: Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes lernten 1989 in den siebten Gymnasialklassen der alten Bundesländer 90.116 Schüler Latein. Zehn Jahre später waren es immer noch rund 90.000, aber nun im größeren wiedervereinigten Deutschland. Das entspricht nur einem knappen Drittel der Schüler dieser Klassenstufe. Von den Schülern der allgemeinbildenden Schulen lernten noch 1980 9,3 Prozent Latein. Schon 1990 war dieser Prozentsatz auf 8,1 Prozent zurückgegangen. Inzwischen liegt er bei 6,3 Prozent. Die Sprache Cäsars rückt immer näher an den Rand unseres Bildungsangebots. Um die Sprache des Perikles steht es noch betrüblicher. Die Quote der Schüler, die sich ihr widmeten, fiel von 0,29 auf 0,14 Prozent.

Das zweite Beispiel stammt aus England. Dort hat sich eine altehrwürdige Erziehungsanstalt jüngst veranlasst gesehen, ihr Schulmotto zu ändern. Es lautete: „Ich höre, ich sehe, ich lerne“ – eigentlich unverfänglich. Das Dumme war nur, dass es auf Latein über dem Schulportal eingemeißelt war, und da hieß es: „Audio, video, disco“.

Mein Interesse an den alten Sprachen wurzelt denn zum einen in meinem familiären Umfeld, zum anderen in meinem professionellen Umgang mit Sprache, schließlich in meinem Mitgefühl für die underdogs des zeitgenössischen Bildungssystems. Dieses Bündel von Faktoren ist es, das mir den Mut gibt, Ihnen im folgenden drei Thesen vorzutragen.

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[accordion-item title=“These Nr. 1″ id=1]

Das Erlernen der alten Sprachen ist nützlich.

Den Terminus „nützlich“ meine ich nicht im platten utilitaristischen Sinn. Hüten wir uns davor, den Maßstab des Arbeitsmarktes an die klassische Bildung anzulegen: die unmittelbare Verwendbarkeit oder Anwendbarkeit. Ich halte es da mit Bundespräsident Rau, der zu dem bedrückenden Ergebnis der PISA-Studie anmerkte: „Wir orientieren uns zu sehr an Wirtschaftsdaten und zu wenig an einem Wertekanon“. In der Tat ist das Mandat der Nachfrage aus der Wirtschaft das eine Grundübel, die Überfrachtung der Lehrpläne mit Spezialwissen von immer kürzerem Verfallsdatum das andere. Wer Erziehung bloß als Vorbereitung zum Geldverdienen begreift und Bildung nur als Konditionierung für bestimmte Berufe, der verkennt ihre eigentliche Aufgabe: Herzensbildung, Charakterbildung, Persönlichkeitsbildung. Gesellschaftlich brauchbar ist nicht bloß, was der Produktion und dem Profit nützt. Wir lernen nicht für Jauchs Millionärsspiel, auch nicht für allfällige Bewerbungsgespräche. Bildungswissen ist mehr als Funktionswissen. Zur Erziehung gehört auch und zumal die Weitergabe von Verhaltensformen und Verhaltensnormen.

Nun will ich keineswegs bestreiten, dass die Kenntnis der alten Sprachen manchen direkten Nutzen abwirft. Man versteht die eigene Sprache besser, wenn man die lateinische gelernt hat, hat Roman Herzog dem Deutsche Altphilologenverband vor zwei Jahren gesagt – Roman Herzog, der als Kultusminister in Baden-Württemberg einmal morgens vor einer Kabinettssitzung rasch die Latein-Abiturarbeit mitschrieb und dabei glänzend abschnitt. Wenn die vielbeschworene PISA-Studie der Lesekompetenz der deutschen Schüler ein verheerendes Zeugnis ausstellt, so hat dies sicher auch mit dem Verfall des altsprachlichen Unterrichts zu tun. Ohne die grammatikalische Schulung, die er vermittelt, ohne das beobachtende, verweilende, sinnerschließende Studieren von Texten verkümmert die Fähigkeit, sich auszudrücken, zu bewerten, zu reflektieren. Das algorythmische Denken bildet dafür sowenig einen Ersatz wie ein Deutsch-Unterricht, aus dem jede literarische Zumutung und Anstrengung herausreformiert worden ist.

Man versteht nicht nur die eigene Sprache besser, man lernt auch moderne Fremdsprachen leichter, wenn man eine solide Grundlage in den alten Sprachen hat. Beides ist richtig, wenngleich ich fairerweise hinzufügen möchte: Die eigenen wie die fremden Sprachen lassen sich nicht nur zur Not, sondern in aller Regel auf direkterem Wege auch erlernen.

Überhaupt bilde ich mir nicht ein, dass sich die einstige Vormachtstellung der alten Sprachen in den Lehrplänen unserer höheren Schulen wiederherstellen ließe. Das wäre nicht einmal in den Gymnasien möglich. Der Verfall des altsprachlichen Unterrichts ist nicht mehr rückgängig zu machen. Vor 150 Jahren wurden an preußischen Gymnasien jährlich 128 Wochenstunden darauf verwendet, 1892 waren es noch 98 Stunden. Davon kann der Humanist heute nur nostalgisch träumen. Aus dem breiten Strom der altsprachlichen Bildung ist längst ein Rinnsal geworden. Der klassischen Gelehrtenschule macht das Realgymnasium schon seit anderthalb Jahrhunderten Konkurrenz. Bereits 1882 wurden die ersten lateinlosen Oberrealschulen eingerichtet. Der Beschluss, allen Schultypen Gleichrangigkeit zuzubilligen, stammt aus dem Jahre 1900. Seit Mitte der sechziger Jahre sind selbst in Bayern, der Hochburg der alten Sprachen, die humanistischen Fächer auf den Lehrplänen heftig geschrumpft. Das Englische, die lingua franca der globalisierten Welt, hat zumal das Griechische marginalisiert – aber wer wollte schon darüber richten, wenn selbst die Griechen inzwischen das Altgriechische aus dem Curriculum ihrer Oberschulen verbannt haben? Im übrigen wäre es nicht nur ein hoffnungsloses, sondern schlicht ein törichtes Unterfangen, wollten wir etwa den Versuch unternehmen, die naturwissenschaftlich-technischen Fächer wieder auf den zweiten Rang zu verweisen. Um die Gleichwertigkeit von Humanwissenschaften und Naturwissenschaften geht es, nicht um die Unterordnung der einen unter die anderen.

Es kommt allerdings darauf an, dass wir dem vorwärtsdrängenden naturwissenschaftlichen Geist die Zügel des Gewissens anlegen; dass wir bedenkenlosen Forschern, die glauben, alles machen zu müssen, was sich als machbar entpuppt – sei dies die Atombombe oder der geklonte Mensch – die Bedenklichkeit ihres Tuns vor Augen führen; kurz, dass wir allem Menschenwerk Maß und Mitte weisen, Grenzen und Schranken. Derlei Maßstäbe der Humanitas aber lassen sich am ehesten aus dem klassischen Fundus gewinnen.

Damit will ich keineswegs sagen, dass jeder Latein und Griechisch lernen müsse – das war ja auch früher nie so. Aber die politischen und wissenschaftlich-technischen Eliten, die unsere Gesellschaft in schwindelerregendem Tempo verwandeln, ohne wirklich zu wissen, wohin der Wandel am Ende führt, sollten doch wenigstens eine ferne Ahnung von den mores maiorum haben, von den Werte-Koordinaten der Alten und der überreichen Fülle ihrer geistigen Welt.

Seitdem C.P. Snow im Jahre 1959 den Begriff der „zwei Kulturen“ prägte – er unterschied zwischen der geisteswissenschaftlich-humanistischen und der naturwissenschaftlich-technischen Kultur – ist die Kluft zwischen beiden eher noch tiefer und breiter geworden. Ungezügelter Forscherdrang und ökonomische Verwertungsinteressen reichen einander dabei die Hand, die mahnende Einrede findet immer weniger Gehör. Indessen bin ich der festen Überzeugung, dass das an der antiken Literatur und Historie geschulte Gewissen heute nötiger ist denn je zuvor. Die Naturwissenschaftler und die Techniker, die ständig die Grenzen des Machbaren wie des Denkbaren erweitern und dabei die Trennlinie zwischen Fortschritt und Frevel immer stärker verwischen, bedürfen eines festen „inneren Geländers“ (Hannah Arendt) mehr als in irgendeiner vorangegangenen Epoche.

Die Gewissenschärfung mit Hilfe der Klassik kann uns durchaus helfen, einen auf das Universelle zielenden Diskurs zu bewahren. Die zeitgenössische Philosophie, Geschichte, Kunst und Sozialwissenschaft sind dazu nicht mehr in der Lage, selbst die Theologie schafft es nicht mehr.

Ich wiederhole: Es geht nicht um platte Nützlichkeit. Es geht vielmehr um das, was wir zu unserem heutigen „Nutz und Frommen“ aus der Antike hinüberretten müssen in unsere Gegenwart und Zukunft. Gewiss kann man Thukydides auch auf Deutsch lesen oder auf Englisch. (Ich ziehe persönlich die kernige englische Übersetzung vor, etwa den Satz aus dem Melierdialog: „The strong do what they can, the weak do what they must„, im Vergleich zum umständlichen Deutschen: „Der Stärkere setzt durch, was eben möglich ist, und der Schwächere fügt sich“.). Aber es ist am Ende doch nicht die punktuelle Aufmerksamkeit, sondern nur die jahrelange Beschäftigung mit der breiten Fülle des Stoffes, die uns den Zugang zum Fundus des Altertums eröffnet, zu seiner Geschichte, seiner Literatur und seiner Philosophie. Aus deren tiefen Wurzeln wachsen die Maßstäbe, die wir heute brauchen.

Gewissensschärfung, Standortbestimmung und Richtungsweisung sind das Wichtigste, was wir der Antike abgewinnen können. Sie lehrt uns die Wandelbarkeit wie die Vielheit der Erscheinungen. Sie eröffnet uns die Dimension der Geschichtlichkeit. Sie erinnert uns daran, dass der Geist ein Wühler ist. Die Fäden ihrer Vergangenheit reichen weit hinein in das Dunkel der Zukunft. Keiner hat dies trefflicher formuliert als Jacob Burckhardt. Von ihm stammt auch das schöne Wort, das Studium der Geschichte solle uns nicht klüger machen für ein ander Mal, sondern weise für immer. Das Geschenk der Antike an uns besteht nicht in leicht nachzukochenden Rezepten, sondern in Werten, moralischen Leitplanken, eben dem „inneren Geländer“ der Hannah Arendt. Die Antike vermittelt uns Prägungen, Haltungen, Vorbilder. Wer sich in sie vertieft, den erwartet eine reiche Sammlung von Beispielen des Glanzes wie des Elends, eine Kollektion von Verhaltensmustern, ein großer Fächer auch von Antworten auf die Frage nach dem richtig gelebtem Leben, nach Tugend und Untugend, Humanitas und Bestialität, salus publica und Selbstbezogenheit

Man kann aus der Geschichte Athens und Roms Erkenntnis destillieren, die auch heute noch gilt. Hätte Lyndon Johnson das Kapitel des Thukydides über die sizilianische Expedition der Athener und deren fatalen Ausgang gekannt, vielleicht hätte er sich nie auf den Vietnam-Krieg eingelassen. Anderseits: Wer die Schilderung der Korkyra-Greuel gelesen hat, der wird sich zwar erregen und empören über Srebrenica, Ruanda oder Grosny, aber er wird sich nicht wirklich darüber wundern. Er weiß mit Sophokles: „Ungeheuer ist viel, und nichts ungeheurer als der Mensch / Über Verhoffen begabt mit der Klugheit erfindender Kunst / geht zum Schlimmen er bald und bald zum Guten hin“.

Uns Heutigen, die wir vor unseren Bildschirmen kleben und Windows 2000 oder XP für die eigentlichen Windows on the World halten – so hieß das Restaurant im obersten Stock des New Yorker World Trade Center – bietet die griechische und römische Antike ein einzigartiges Fenster auch auf unsere zeitgenössische Welt. Goethe hat recht, wenn er die Wichtigkeit der alten Sprachen damit begründet, „daß in ihnen alle Muster der Redekünste und zugleich alles andere Würdige, was die Welt jemals besessen, aufbewahrt sei“.

Damit komme ich zu meiner zweiten These.

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[accordion-item title=“These Nr. 2″ id=2]

Nur wer das Gestern kennt, versteht das Heute.

„Die Sprache der Griechen und Römer hat uns bis auf den heutigen Tag köstliche Gaben überliefert“, hat Goethe gesagt. Der Satz besitzt unveränderte Gültigkeit, wiewohl uns die Gaben der Alten nicht mehr so bewusst vor Augen stehen wie den Weimarer Klassikern.

Griechisch und Latein sind und bleiben der Schlüssel zu der Schatztruhe jener Überlieferung, auf der unsere Kultur ruht. Ohne diesen Schlüssel aus ferner Zeit ist uns das Verständnis des eigenen Herkommens wie des eigenen Wesens verwehrt. Wer sich von den Pfahlwurzeln der Antike abschneiden wollte, der liefe Gefahr, sich abzuschneiden von den gegenwartsprägenden Traditionen unserer Geistesgeschichte.

Gegenwartsprägend: in der Tat. Wo bliebe unser Sinn für Tragödie und Komödie, kennten wir nicht die großen Stoffe des Euripides, des Sophokles und des Aristophanes? Die Literatur der Neuzeit bliebe uns unverständlich: Shakespeares „Julius Cäsar“ und sein „Coriolan“. Racines „Phädra“. Goethes Iphigenie und Schillers Kraniche des Ibikos. Grillparzers „Medea“. O’Neills „Trauer muss Elektra tragen“.. Thornton Wilders „Iden des März“. Sartres „Trojanerinnen“. Christa Wolffs „Kassandra“. Sie alle wurzeln in den Schriften der Alten. Neuerdings auch manche Gedichte in dem eben herausgekommenem Band „Erklärte Nacht“ von Durs Grünbein: „Chrysippus sagt, nur die Seelen der Weisen/ schwirren noch bis zum großen Weltbrand umher“; oder: „Daß Remus vom Bruder ermordet, Romulus, und seine Leiche zerstückelt wurde aus Machtgier/ soll unser Schicksal sein …“. Wir stünden wie der Ochse vor dem Berg, wären wir unvertraut mit dem Quelleneinzugsgebiet so viel großer Literatur unserer eigenen Epoche.

Auch in Europas Museen, Schlössern und Palästen würden wir begriffsstutzig umherirren, wenn uns die Erinnerung an die Mythen der Antike verlorenginge, an ihre Sagen und Legenden. Die Geburt der Venus gibt es in unzähligen Varianten, von Botticelli und Tizian in den Uffizien, von Bougereau und Cabanel im Pariser Musée d’Orsay, anderswo von vielen anderen. Sappho, Jason, Orpheus, Homers „Odysee“ und Vergils „Äneis“ lieferten unendliche Anregungen. Es gibt kaum einen großen Maler der frühen Neuzeit, der sich nicht seine Sujets aus der Rüstkammer der Antike geholt hat. Denken Sie an Raffaels „Schule von Athen“; an Rembrandts „Verschwörung des Claudius Civilis“; an Berninis „Apoll und Daphne“ oder seinen „Raub der Proserpina“; an Piranesis Radierungen römischer Ruinen; an Caravaggios „Bacchus“; an Rubens‘ „Amazonenschlacht“; an Tizians „Raub der Europa“. Nur die christliche Religion hat die Künste in gleicher Weise befruchtet wie die Antike.

Doch begegnen wir der Hinterlassenschaft der Griechen und Römer ja nicht nur in Museen. Sie tritt uns täglich entgegen. Wir benützen dauernd Redewendungen wie etcetera oder per se. Wir sagen In vino veritas und Noli me tangere. Wir reden vom deus ex machina und pontifizieren ex cathedra. Wir lesen, dass ein Angeklagter in absentia verurteilt worden ist. E pluribus unum lautet der Wappenspruch der Vereinigten Staaten, der jeden Dollarschein ziert. Per ardua ad astra ist der Wahlspruch der englischen Royal Air Force. Mit Quo vadis lockt Hollywood die Cineasten in die Lichtspielhäuser. Team Situs heißt eine Hamburger Immobilienfirma. Es fehlt nur, dass sich das Verbrauchermagazin „Test“ oder der Deutsche Apothekerverband das Motto „Caveat emptor“ erwählt – passen Sie auf bei jedem Kauf, zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker!

Wir verzieren unsere Prosa mit den Trümmern der alten Sprachen. Errare humanum est sagen wir leichthin, Nachsicht heischend oder gewährend. Tempora mutantur, nos et mutamur in illis, zitieren wir gern. Das Dulc’et decorum est pro patria mori ist aus der Mode gekommen. Dafür bestimmt das Quo usque tandem des Cicero gegen Catilina unausgesprochen die Rhetorik unserer Politiker: „Wie lange noch, Herr Bundeskanzler (Frau Vorsitzende, Herr Kandidat) wollen Sie unsere Geduld missbrauchen? Und das ceterum censeo Carthaginem (Al Qaidam, Axem Mali, urbem Bagdad) esse delendam dröhnt uns aus dem Weißen Haus täglich in den Ohren. Ein Leitartikler der New York Times hat jüngst den Präsidenten George W. Bush gewarnt, im Vollgefühl der überlegenen amerikanischen Macht die Ansichten anderer Staaten und Völker schnöde zu ignorieren. Die ciceronische Devise: Oderint dum metuant – sollen sie uns hassen, Hauptsache sie fürchten uns – sei kein Rezept, schrieb der Kolumnist Nicholas Kristof. Er zitierte nicht nur den lateinischen Urtext, er merkte sogar an, dass Cicero den Spruch aus dem Drama „Atreus“ des Accius abgekupfert habe.

Die Antike umgibt uns allenthalben. Wer mit wachen Augen Zeitung liest, der stolpert jeden Tag über Dutzende von Beispielen. Neulich habe ich an einem einzigen Tag die Überschrift „O tempora, o mores“ gelesen; eine Anspielung auf die Tonne des Diogenes in einer Unterzeile; eine Abhandlung über Hybris und Nemesis im Feuilleton; überdies die Bezeichnung „katilinarische Existenz“ für einen Hauptbeschuldigten in einem zeitgenössischen Korruptionsfall. Ich bespiegelte mich im „Mirror“, dann focussierte ich mich auf „Focus“. Ich stolperte über einen Artikel, der Cogito ergo sum überschrieben war – „Was hat Descartes dabei gedacht?“ Und ich ließ mich von der Gesellschaft für Deutsche Sprache belehren, dass für den Nachfolger des Pfennigs, den Cent, die Lautung Zent vorzuziehen sei gegenüber der Aussprache „Ssent“; dies sei eine Rückwendung zum Lateinischen, eine Angleichung an das längst mit z geschriebene Prozent, den Zentimeter, den Zentner.

Auch hier hat Geltung, was ich vorher schon einmal gesagt habe: Man kann sich dem Fundus der Antike auch auf anderen Wegen nähern als über die alten Sprachen. Aber es ist mühsamer, sich die geistige Welt der Griechen und Römer Reclambändchen um Reclambändchen zu erschließen, als wenn man sich in einem über Vokabeln, Grammatik und Syntax hinausweisenden Sprachunterricht in jahrelanger Beschäftigung mit der Welt Athens und Roms systematisch und gezielt den Zugang zu den Wurzeln freischaufelt. Dies muss ebenfalls nicht jedermanns Sache sein. Doch jenen Funktionseliten, die unser altes Bildungsbürgertum abgelöst haben, darf – ja: muss – solche Sappeurs-Arbeit zugemutet werden, wenn nicht der Kontakt zu unserer Herkunft, unserer Überlieferung und den Fundamenten unserer Kultur abreißen soll. Das back to the roots hat hier seinen guten Sinn, auch wenn wir in diesem Falle wohl besser sagen sollten: ad fontes! Lassen wir den Kontaktabriss zu, werden wir bald nicht mehr in der Lage sein, das Palimpsest der westlichen Zivilisation zu entziffern.

Es gibt aber noch einen weiteren Grund, weshalb wir einen solchen Filmriss unter allen Umständen vermeiden müssen. Er führt mich zu meiner dritten These.

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[accordion-item title=“These Nr. 3″ id=3]
Die Europäische Union braucht die Rückbesinnung auf die gemeinsamen Wurzeln der Europäer in der Antike. Nur daraus kann jenes Bewusstsein der Identität wachsen, das sie befähigt, sich in den Stürmen des neuen Jahrhunderts zu behaupten.

Wenn die Europäer auf das vergangene halbe Jahrhundert zurückblicken, dann treten all die vielen Querelen um Brüssel und Brüssel herum zurück hinter dem, was sie mittlerweile erreicht haben: nämlich eine revolutionäre Umgestaltung der europäischen Verhältnisse. Nach einem Jahrtausend der Selbstzerfleischung, nach Jahrhunderten mörderischer Bruderkriege, nach 75 Jahren Blut und Schrecken zwischen 1914 und 1989 hat ihnen die europäische Idee jenseits der Gräben und Gräber einen Horizont der Hoffnung verheißen. Heute sind sie auf dem Wege zu einer „immer engeren Union“, wie das Ziel im Vertrag von Maastricht beschrieben wird.

Erweiterung und Vertiefung, überhaupt unablässiger Integrationsfortschritt – das waren seit der Europäischen Zahlungsunion von 1950 und der Montanunion im folgenden Jahr die Bewegungsmomente des europäischen Einigungs-prozesses. Aus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft von 1958 ist die Europäische Union geworden, aus den sechs ursprünglichen Mitgliedern ein Verbund von fünfzehn Staaten. Und die alten Antriebsmomente wirken weiter fort. Zum einen in Richtung Erweiterung: Über ihren Beitritt wird gegenwärtig mit zwölf Ländern verhandelt; bis zum Ende des Jahrzehnts könnte die Zahl der Mitglieder auf zwei oder zweieinhalb Dutzend anwachsen. Zum anderen in Richtung Vertiefung: Zwölf Länder haben bereits die neue Gemeinschaftswährung, den Euro, die anderen denken über dessen Einführung nach, und seit kurzem berät ein Konvent unter dem Vorsitz von Giscard d’Estaing über eine europäische Verfassung. Der Integrationsprozess dauert an.

Das Fernziel heißt United States of Europe, anvisiert schon von Winston Churchill in seiner berühmten Züricher Rede vom September 1946. Noch sind wir nicht so weit. Vor uns liegt ein längeres Zwischenstadium, für das die angemessene Bezeichnung der europäischen Konstitution wohl eher Vereinigtes Europa der Staaten wäre als Vereinigte Staaten von Europa.

Auch wenn wir das Endziel erreicht haben werden, wird Europa kein Einheitsstaat, kein Einheitsbrei sein. Die alten, stolzen Völker unseres Kontinents werden darin sowenig untergehen wie die Bayern in Deutschland oder die Schotten in Großbritannien. Europas Einheit muss sich in der Vielfalt erweisen, nicht in Gleichschaltung und Gleichmacherei. Sein Wappenspruch wird nicht lauten wie der amerikanische: E pluribus unum – aus vielem Eines. Er kann nur heißen: E pluribus pluralitas unita – aus vielen eine vereinte Vielheit.

Das heißt: Niemand wird auf seine Eigenheiten und Eigentümlichkeiten verzichten müssen – seine Sprache, seine Literatur, seine Kultur, seine Cuisine. Die Nationen werden bestehen bleiben – allerdings als Bausteine des größeren europäischen Hauses und als Nationen ohne Nationalismus. Jeder wird seine nationale Identität behalten. Aber jeder wird auch eine zweite Identität hinzugewinnen: eine europäische.

Bisher ist diese europäische Identität nur schwach ausgebildet. Es gibt, über die Eliten der Politik und das Brüsseler Mandarinat hinaus, noch keine europäische Öffentlichkeit, auch noch keine europäische öffentliche Meinung. Es gibt bis heute keinen europäischen demos. Es fehlt an einem verbindenden Geschichtsbewusstsein, das die europäischen Gemeinsamkeiten gegenüber den Verschiedenheiten in den Vordergrund rückt. Aber es wächst doch erkennbar das Verständnis dafür, dass Europa, wenn es mehr sein und werden will als ein profitabler Markt, sich auf seinen gemeinsamen Urgrund besinnen muss. Dieser Urgrund jedoch liegt in der Antike. Ihr durch die Jahrhunderte fortwirkendes Vermächtnis hat die unauflösliche Zusammengehörigkeit der europäischen Völker selbst in ihrer tausendjährigen Zerrissenheit und Zerstrittenheit verbürgt.

Dies hat schon Ortega y Gasset, der spanische Philosoph, erkannt. „Das Schlachtgetöse“, schrieb er, „war gewissermaßen nur ein Vorhang, hinter dem umso zäher der Webstuhl des Friedens arbeitete, der das Leben der feindlichen Nationen ineinanderwirkte“. Ortega war es auch, der eine Erkenntnis herausarbeitete, auf die es mir in unserem Zusammenhang besonders ankommt. Er wies nämlich darauf hin, dass 80 Prozent dessen, was die verschiedenen Nationen ihr nationales Erbe nennen, im gleichen Humus wurzelt und aus gemeinsamem Fundus stammt: „Vier Fünftel unserer inneren Habe sind europäisches Gemeingut“. Paul Valéry hat es ganz ähnlich ausgedrückt: „Überall, wo die Namen Cäsar, Gajus, Trajan, Vergil, überall, wo die Namen Moses und Paulus, überall, wo die Namen Aristoteles, Plato, Euklid Bedeutung und Ansehen haben – dort ist Europa!“ Man könnte durchaus von einer europäischen Leitkultur reden.

Sie, meine Damen und Herren Altphilologen – Sie sind es, die das Erbe der Antike hüten und bewahren. Halten Sie sich stets den Satz vor Augen, den Gustav Seibt unlängst in der Süddeutschen Zeitung geschrieben hat: „Das Lateinbuch ist das Lehrbuch Europas“. Latein und Griechisch haben unserem zerklüfteten Kontinent zwei Jahrtausende lang Zusammenhang und Zusammenhalt gegeben – eine ideale Grundlage für die Gemeinsamkeit, die wir uns heute in der Europäischen Union neu erobern.

In einer Zeit, da Europa sich anschickt, ein Staatenverbund ganz neuer Art zu werden, eine Union kontinentalen Ausmaßes und globalen Gewichts, ist das antike Erbe wichtiger denn je. Angesichts der fortbestehenden Unterschiedlichkeit im Streben, Denken und Fühlen der Nationen muss es zum politischen Willen, zum ökonomischen Kalkül, zu den funktionalen Erwägungen hinzutreten, um der Union ihren geistig-kulturellen Kitt zu liefern. Aus dem Fundus der Alten kann sich die Herausbildung eines europäischen Selbstverständnisses speisen, jene „emotionale Vergemeinschaftung“, von der Max Weber einst im Blick auf die nationale Identitätsbildung gesprochen hat, nun freilich auf der europäischen Ebene. Nach und nach können dann die nationalen Identitäten zurücktreten hinter der überwölbenden europäischen Identität.

Der Rückgriff auf die Frühzeit des Abendlandes entspringt dabei nicht dem Luxus der Nostalgie. Europas gemeinsame Identität drückt sich heute schon auf vielerlei Feldern aus. Die Europäische Union ist längst mehr als ein großer Markt. Zusehends wird sie zur politisch und militärisch handelnden Einheit. Unleugbar baut sie auf ein deutlich von Asien oder auch Amerika abgehobenes Wertesystem, Ausdruck einer gesellschaftlichen Vorstellung, der das Bild eines Kapitalismus mit menschlichem Antlitz zugrunde liegt – die Idee der Sozialen Marktwirtschaft als Gegensatz zu einem globalen Kapitalismus ohne Schranken und ohne Verantwortung. Darüber hinaus aber ist das Brüsseler Europa ein intellektueller, spiritueller und kultureller Raum, in dem das Vermächtnis Griechenlands und Roms, des christlichen Mittelalters, der Renaissance und der Aufklärung zusammenfließen. Allein dieses Vermächtnis kann dem bunten Flickenteppich der europäischen Nationen jenes entgegengenähte Unterfutter gemeinschaftlichen Empfindens schaffen, das den Zusammenhalt ihrer Union garantiert.

Meine These lautet ganz schlicht: Europa, will es dem Ansinnen, den Anstürmen und, womöglich, den Anschlägen der übrigen Welt trotzen können, bedarf dringend der Besinnung auf seine Wurzeln, einer in seiner Geschichte begründeten Identität, die mehr ist als die Addition seiner nationalen Identitäten, einer geistigen Form sui generis. Wir brauchen dies umso mehr, als ja auch in anderen Weltregionen die Völker, die Kulturen sich wieder auf die Wurzeln ihrer Tradition besinnen und die Profile ihrer Identität aufs Neue schärfer zeichnen.

Der Harvard-Professor Samuel Huntington prophezeit uns seit einigen Jahren einen clash of civilizations, einen Zusammenprall der Kulturen: Morgenland gegen Abendland, Islam gegen Christenheit, Konfuzianer gegen Kantianer, Obskurantisten gegen Aufklärer. Ich habe seine These lange Zeit bezweifelt, und ich denke auch heute noch, dass der Kampf der Großkulturen untereinander weder zwangsläufig noch unausweichlich ist. Aber seit dem 11. September vorigen Jahres bin ich nicht mehr so unumstößlich sicher, dass es Fundamentalisten vom Schlage Osama bin Ladens nicht doch gelingen könnte, einen clash of civilizations auszulösen.

Ich hoffe indessen, dass die jüngsten Terroranschläge aus der muselmanischen Welt nicht der Vorbote eines Zusammenstoßes der islamischen und christlichen Welt sind. Wäre es so, es bliebe uns nichts anderes übrig, als uns beherzt zu wehren – nicht als Franzosen, Polen, Deutsche, Engländer oder Spanier, sondern als Europäer. Dabei dürften wir uns der Tatsache erinnern, dass die Begriffe „Europa“ und „Europäer“ entstanden sind in den Abwehrkämpfen gegen Angreifer aus dem Osten. Hippokrates und Isokrates erfanden das Etikett „Europa“ unter dem Eindruck der Perserkriege, um die freien Völker westlich des Hellespont von den despotisch regierten Völkern Asiens zu unterscheiden. Elfhundert Jahre später, als der Sarazenenkönig Abd-ar-Rahman in Gallien einfiel und eine gallisch-römisch-germanische Streitmacht unter Karl Martell ihn 732 nach Christus in der Schlacht von Tours und Poitiers aufs Haupt schlug, nahm der Chronist des blutigen Treffens den Begriff „Europäer“ wieder auf. Nach der Schlacht, berichtet er, Europenses se recipiunt in patrias – die Europäer zogen sich in ihre Vaterländer zurück. Doch schwenkten sie auch in den nächsten tausend Jahren das Europa-Panier, wann immer Hunnen, Mongolen oder Türken sie berannten. Es ist, als waltete da ein ehernes Gesetz der Geschichte: Die Europäer rückten unter Bedrohung zusammen, war die Gefahr vorüber, fielen sie wieder übereinander her.

Im 21. Jahrhundert benötigen wir keinen äußeren Feind mehr als Motiv für die europäische Einigung. Wohl müssen wir uns wappnen für den Fall, dass ein solcher Feind sich erhebt, doch sollten wir alles daransetzen, einen Zusammenprall der Kulturen zu verhindern. Allerdings: Auch für die bei weitem vorzuziehende Alternative, für den Dialog der Kulturen, brauchen wir Europäer die feste Verankerung in unserer gemeinsamen Vergangenheit. Sie bietet uns jenen Rückhalt im Eigenen, dessen wir im Gespräch wie im Wettbewerb mit fremden Kulturen bedürfen.

Heute gibt es sechs Milliarden Menschen, darunter 600 Millionen Europäer – ein Zehntel der Weltbevölkerung. Bald wird die Menschheit acht Milliarden zählen, von denen, hält der gegenwärtige Trend an, nur noch 500 oder gar 400 Millionen Europäer sein werden. Neben 1,5 Milliarden Chinesen, 1,5 Milliarden Indern, 1,3 Milliarden Muslimen und 800 Millionen Afrikanern werden wir uns auf die Dauer schwerlich behaupten können, wenn wir uns nicht unseres eigenen Herkommens versichern, unserer kulturellen Tradition, des inneren Bandes, das Europa zusammenhält in einem Weltzeitalter, in dem sein Genius demographisch nicht mehr angemessen untermauert ist.

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[accordion-item title=“Schluss“ id=4]
Ich habe den Bogen weit gespannt und bitte dafür um Nachsicht. Es kam mir darauf an, den Wert der alten Sprachen und damit der antiken Prägungen, die sie uns weiterreichen, nicht nur unter dem Gesichtspunkt des pädagogischen Nutzens zu betrachten, auch nicht vornehmlich unter dem Aspekt ihrer kulturellen Bedeutung. Ich wollte darüber hinaus klarmachen, dass das Erbe der Antike in der heutigen Zeit auch von hochaktueller politischer Bedeutung ist. Es bildet die Grundlage für ein europäisches Selbstbewusstsein und damit das Fundament jenes Europäischen Hauses, an dessen Bau wir arbeiten.

Mein Beruf lässt mir nur wenig Musse, mich in die Schriften der Alten zu vertiefen. Anders als Roman Herzog würde ich im Lateinabitur heute wohl durchfallen. Anders als Franz Josef Strauß könnte ich Catulls Strophen über die Halbinsel Sirmione im Gardasee nicht mehr aus dem Gedächtnis aufsagen. Und anders als Carlo Schmid hätte ich mich mit dem sowjetischen Ministerpräsidenten Malenkow, einem ehemaligen Klosterschüler, kaum auf Lateinisch unterhalten können.

Indessen greife ich oft zu den mittlerweile 13 Bänden des Neuen Pauly, nm Einschlägiges nachzuschlagen. Immer wieder lese ich im „Peloponnesischen Krieg“ des Thukydides. Häufig blättere ich in den zweisprachigen Ausgaben der Schriften Senecas. Und zuweilen erfreue, erfrische ich mich an den Liebesgedichten des Catullus – Da mi basia mille, deinde centum, dein mille altera. Als verachtenswerteste Gestalt der Weltgeschichte erscheint mir jener Pandaros aus Homers „Ilias“, der den Spartanerkönig Menelaos mitten im Waffenstillstand mit tückischem Pfeil schwer verwundete; statt Freundschaft zwischen Achäern und Troern herrschte danach auf lange Jahre wieder „schlimmer Krieg und schreckliche Feldschlacht“. Pandaros war der Prototyp jener Betonköpfe, Hardliner, Zeloten, die auch in den Konflikten der Gegenwart nie Ruhe geben, sondern jeden Ansatz zum Frieden zerstören. Wir sehen sie allenthalben auf allen Seiten an ihrem ruchlosen Werk: im arabisch-israelischen Konflikt, im nordirischen Bürgerkrieg, in Kaschmir, in Angola, im Sudan, in Tschetschenien. Bewunderungswürdig hingegen finde ich die Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton, die den Gewaltherrscher Hipparch töteten, um der Demokratie den Weg zu ebnen; ihr Denkmal ist gegenwärtig in der schönen Ausstellung „Die griechische Klassik – Idee und Wirklichkeit“ im Berliner Gropius-Bau zu sehen.

Ich weiß, dass wir nicht rückwärts in die Zukunft gehen können. Aber ich möchte all den Nützlichkeits- und Verwertbarkeitsfanatikern widersprechen, die da schnöde predigen, man könne die Welt von morgen ohne die Wertorientierungen von gestern bauen. Gewiss unterliegen auch Werte dem Wandel, zumal die mores des Alltags. Aber es gibt einen Kernbestand, den wir in die Zukunft hinüberretten müssen, wenn des Menschen Macht und Tun nicht ständig aus den Geleisen des Gehörigen herausspringen soll. Es kann nicht das Ziel sein, die Antike wiederherzustellen. Aber es ist jeder Anstrengung wert, sie als ruhenden Pol unseres Denkens begreifen und bewahren zu lernen, als „Spiegel und Medium der Selbsterkenntnis“ (Johannes Gaitanides), als Quell der Burckhardtschen „Weisheit für immer“ in den Veränderungswirbeln und Beschleunigungsturbulenzen der Moderne. Dies mag vielen unzeitgemäß vorkommen – aber es ist unzeitgemäß in jenem höheren Sinne, den Friedrich Nietzsche der klassischen Philologie zuschrieb: wirkend „gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zugunsten einer kommenden Zeit„.

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