Wladyslaw Bartoszewski (Warschau) – Der Weg in die europäische Zukunft

„Nicht zuletzt über die Rückbesinnung auf die Ursprünge der abendländischen Zivilisation“ führe der Weg in die europäische Zukunft. Dies ist die Grundthese des Vortrags, den der frühere polnische Außenminister bei der Verleihung des Humanismus-Preises des Deutschen Altphilologenverbandes am 16. April 2004 in Köln gehalten hat.

Ich bin zugegebenermaßen kein Altphilologe, dennoch fühle ich mich bei dem heutigen Auftritt vor Ihnen keineswegs fehl am Platz. Denn wir beschäftigen uns nicht „bloß“ mit alten Sprachen, sondern sollen – dem Kongress-Motto entsprechend – auf jene Bereiche aufmerksam machen, wo die Antike der Gegenwart begegnet und im europäischen Ausmaß die Rolle einer verbindenden Instanz erfüllt.

In meinem Verständnis war und ist Europa immer in erster Linie als lebendige kulturelle und geistige Einheit zu begreifen. Die europäische Identität ist weiterhin – d.h. über die noch bis vor kurzem (denn was sind eigentlich die vergangenen 15 Jahre im historischen Vergleich?) bestehende Trennung durch verschiedene politische Systeme hinaus – als eine gesamteuropäische zu denken, die ihren Ursprung in einer jahrhundertelangen, bis zur antiken Zeit zurückreichenden gemeinsamen Kulturtradition hat.

Die kulturelle Einheit Europas in Denken, in Wissenschaft und Kunst wurzelt in einem gemeinsamen christlich geprägten Wertverständnis. So kann auch der langjährige Kampf um die Menschenrechte im „zweiten“ (oder „neuen“, wie es in letzter Zeit irrtümlich genannt wird) Europa aus einer europäischen Gemeinsamkeit im Geistigen und Historischen verstanden werden, als Ausdruck einer gemeinsam geteilten Werthierarchie.

Der Reichtum unseres europäischen Kontinents bestand immer in seiner Vielfalt, der Vielfalt von Völkern und Überlieferungen, die auf gemeinsamen Traditionen beruhen, sich aus den gleichen Wurzeln entwickelt haben. Das europäische Abendland ist geprägt vom griechischen Denken, vom römischen Recht, vom christlichen Glauben. Humanismus, Renaissance und die Reformation haben ebenso zu dem Bild des christlichen Abendlandes beigetragen, wie später die Aufklärung und die moderne Wissenschaft.

Jahrhundertelang war Europa das Zentrum der Zivilisation, das die Geschicke und den Lauf der Geschichte bestimmte. Seine Rolle in der Welt ist wichtig und wird auch weiterhin wichtig sein; sie kann es aber auf Dauer nur dann bleiben, wenn die gemeinsamen Werte, die sich in den vergangenen Jahrhunderten trotz so mancher schweren Proben bewährt haben, weiter berücksichtigt und gepflegt werden.

Diese europäische Gemeinsamkeit im Geistigen, im Denken, in der Wissenschaft in der Kultur, in der Kunst wird – wie schon mehrmals zuvor – die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systeme überdauern. Sie bildet die eigentliche Basis für standhafte Einheit, ein Fundament aus dauerhaften geistigen Bindungen. Keine Trennungslinie und keine politische Teilung kann die gemeinsame, tief verwurzelte Hierarchie der Werte abschaffen, wenn die Menschen das nicht wollen – das hat uns der Eiserne Vorhang und die Berliner Mauer gezeigt. Nun sind wir als Christen und einfach als denkende Menschen verpflichtet, die mancherorts noch existierenden Trennungslinien auf jede mögliche Weise zu überwinden und die restlichen Folgen der jahrzehntelangen Spaltung abzuschaffen.

Das mangelnde Bewusstsein dieses europäischen Zugehörigkeitsgefühls, des geistigen Grundsteins, auf dem das europäische Haus zu errichten ist, kann dagegen alle Integrationsbestrebungen zunichte machen und das ambitionierte Unternehmen Europa zum bloßen Umschlagplatz für Waren und Dienstleistungen verkommen lassen. Wie es Johannes Paul II. 1997 anlässlich des Gedenkens an den Tod des hl. Adalberts im polnischen Gnezen feststellte:

„In Europa wird es keine Einheit geben, solange diese nicht auf der Einheit des Geistes beruht“.

Nicht ohne Grund rückt immer öfter das Thema der geistigen Grundlagen der erweiterten Union in den Vordergrund. Denn die EU ist „weder ein schlicht geographischer Begriff, noch nur eine Wirtschafts- und Währungsunion; sie ist gemeinsame Teilung der Werte und der Geschichte. Diese Feststellung sollte aber ebenfalls in der europäischen Gesetzgebung und in der eindeutigen Bestimmung der fundamentalen, nicht nur ethischen, sondern auch religiösen Werte Reflex finden. Je größer die kulturelle, religiöse und ethnische Verschiedenheit, desto größer das Bedürfnis nach geistiger Einheit. Sollte es aber nicht gelingen, ein Minimum an geistiger Einheit zu erreichen, kann das zu Spannungen führen. Das Postulat der gemeinsamen Werte ist also bei dem Aufbau Europas, auch als geistiger Gemeinschaft, unumgänglich. […] Die Rückkehr zu den Wurzeln und zu der christlichen Inspiration heißt aber nicht, etwas aufnötigen zu wollen oder das Rad der Geschichte rückwärts laufen zu lassen. Es ist, wie Johannes Paul II. in Erinnerung bringt, ein großer Reichtum, der erlaubt, die feste Einheit Europas aufzubauen.“1

Ich selbst bin in Polen an der Weichsel, also in diesem Europa, geboren und wurde später in einer katholischen Kirche getauft. Ich sehe keine wesentlichen Unterschiede, die meine Landsleute und mich trennen könnten oder trennen sollen von den Menschen, die an der Donau, am Rhein oder an der Themse geboren sind. Ich erwähne hier nicht zufällig Polen, Europa und die Kirche, denn die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kreis von Tradition und Kultur – also auch zu dem, was hier Humanismus genannt wurde – verbindet mich untrennbar sowohl mit meiner Volkszugehörigkeit und der Tradition, als auch mit dem gesamten Gedanken- und Kulturgut des Abendlandes.

Ein ungemein wichtiges Element dieses Kulturgutes besteht vor allem in der allen Europäern gemeinsamen, durch Jahrhunderte gestalteten Begriffshierarchie, einer verbindenden Instanz, welche die Menschen über sprachliche, nationale und staatliche Grenzen hinweg einander näher bringt. Ich denke daran, was Millionen von uns in Europa gemeinsam war: die Selbstverständlichkeit von Begriffen wie Freiheit, Menschenwürde, Ehrfurcht vor dem Leben, die negative Einstellung gegenüber allen Formen der Übermacht und Gewalt, die Solidarität mit den Verfolgten, die Sorge für die Schwachen und Wehrlosen, ein besonders ausgeprägter Schutz für Mutter und Kind. Für meine früheren Zeitgenossen, junge Menschen, die vor dem Zweiten Weltkrieg in meiner Heimat erzogen wurden, waren dies selbstverständliche, in ganz Europa, also auch in unserem Nachbarland Deutschland zumindest bis 1933, allgemein verpflichtende Werte. Der September 1939 und die nachfolgenden Jahre waren daher nicht nur eine Periode von Leidenserfahrung und Opferbereitschaft im Kampf um die Freiheit und Unabhängigkeit der durch die Naziherrschaft bedrohten Länder, sondern auch der Versuch, diese moralische Ordnung – unsere gemeinsame moralische Ordnung – zu verteidigen.

Heute ist die so genannte Bewältigung der Vergangenheit vor allem durch das Näherrücken und das gegenseitige bessere Verständnis von möglichst vielen Menschen erreichbar. Es geht hier keineswegs um die Verdrängung, sondern vielmehr um das ehrliche Interesse für die Fakten und für die Geschichte, die uns näher bringen muss, wie die totalitären, autoritären Kräfte die demokratischen Systeme, die Menschheit und jeden von uns bedrohen. Doch die Geschichte ist nicht nur als Warnung zu verstehen. Sie lehrt auch viel Nützliches. So beschreibt beispielsweise der weltbekannte deutsche Philosoph Karl Jaspers die Selbstverständlichkeit der Gemeinschaft der europäischen Nationen, der Einheit Europas, die vor dem Ersten Weltkrieg herrschte:

„Es erscheint uns wie eine paradiesische Zeit, als man ohne Pass aus Deutschland nach Rom fuhr und nur die Merkwürdigkeit feststellte, dass man, wenn man nach St. Petersburg fahren wollte, einen Pass brauchte.“

Später ist der Begriff Europa unklar geworden. Es schien nur noch aus Osten und Westen zu bestehen. Erst heute erleben wir die wahre Wiederbelebung des europäischen Bewusstseins und versuchen uns dabei zu erinnern, dass Europa immer dann groß und einflussreich war, wenn sich seine unterschiedlichen gesellschaftlichen Strukturen, seine kulturellen, religiösen, ethischen und ideologischen Ideen, Weltbilder, Sprachen, Wirtschaftsideen, politische und unternehmerische Aktivitäten gegenseitig ergänzen und befruchten konnten, d.h. wenn ein gegenseitiger Austausch stattfinden konnte.

Daraus ergibt sich eine wichtige Lehre: Ein in Kultur und Sprache einheitliches Europa zu schaffen ist nicht das wahre Ziel der Integration. Wichtig ist, die Besonderheit der einzelnen Nationen und Regionen zu erhalten, die jeweilige Besonderheit und Originalität nicht zu zerstören, sondern im Gegenteil zu fördern und zu unterstützen. Die Ursprünglichkeit und Besonderheit der verschiedenen europäischen Regionen, Sprachen, Landschaften, die Eigentümlichkeiten und Besonderheiten der Menschen sollten gestärkt und unterstützt werden. Das erfordert aber von allen die Bereitschaft zum Verstehen, zum Aufeinanderzugehen – die Bereitschaft, eine gemeinsame Kultur anzuerkennen.

Um es klarer zu sagen: Gelegentlich wird die Entwicklung des nationalen Denkens in europäischen Staaten im vorigen Jahrhundert und nach dem Ersten Weltkrieg für die Bedrohung des Friedens in der Welt verantwortlich gemacht. Meiner Meinung nach ist das falsch: Europa hat es in einem langen und schwierigen Prozess geschafft, sich zu Nationen zu entwickeln, die viel Gemeinsames gefunden haben. Die Kriege in Europa waren vielmehr eine Entartung – schon jetzt überwundene Entartung – der Idee und der Praxis der freien nationalen Staaten.

Das künftige Europa hat nur bei der Erneuerung aus seinem Geist und aus seinen Gegebenheiten Chancen. Zu diesen Gegebenheiten gehören – trotz schmerzlicher Vergangenheit – doch die Nationalstaaten, die Vaterländer der freien Kulturvölker. Das vereinte Europa darf also in der näheren Perspektive nur ein Staatenbund der bestehenden Nationalstaaten sein, eine Idee, die nicht sehr weit von der Idee de Gaulles entfernt ist, seinem „Europa der Vaterländer“. In einem solchen Staatenbund muss Sinn und Zweck nicht die scheinbare oder oberflächliche Integration sein, sondern vielmehr die Erhaltung der Völker und ihrer Kulturen im Geist der gegenseitigen Achtung und Toleranz. Das ist sicher keine leichte Aufgabe, aber durchaus eine realistische und denkbare im Europa des 21. Jahrhunderts.

Anlässlich der damaligen Europafeier sagte Papst Johannes Paul II. bereits vor 20 Jahren, als Europa noch geteilt war und keine Anzeichen auch nur darauf hindeuteten, dass eine Überwindung dieser Teilung in greifbarer Nähe lag:

„Trotz blutiger Konflikte zwischen den Völkern Europas und trotz der geistigen Krisen, die das Leben des Kontinents erschüttert haben – bis zu den Fragen, die sich dem Gewissen unserer Zeit über seine Zukunft stellen –, muss man nach zwei Jahrtausenden seiner Geschichte zugeben, dass die europäische Identität ohne das Christentum nicht verständlich ist, dass gerade in ihm sich jene gemeinsamen Wurzeln finden, aus denen die Zivilisation des Kontinents erwachsen ist, seine Kultur, seine Dynamik, seine Unternehmungslust, seine Fähigkeit zur konstruktiven Ausbreitung auch in andere Kontinente, kurz: alles, was seinen Ruhm ausmacht. Auch in unserer Zeit bleibt die Seele Europas geeint, weil es über seinen gemeinsamen Ursprung hinaus von den gleichen christlichen und humanen Werten lebt wie beispielsweise der Würde der menschlichen Person, dem echten Gefühl für Gerechtigkeit und Freiheit, der Arbeitsamkeit, dem Unternehmungsgeist, der Liebe zur Familie, der Achtung vor dem Leben, der Toleranz, dem Wunsch zur Zusammenarbeit und zum Frieden, die seine charakteristischen Merkmale sind und es kennzeichnen.“

Interessanter Beweis für das Gefühl des ungebrochenen europäischen Bündnisses findet sich auch in einer anderen Rede aus der Zeit des Kalten Krieges. Richard von Weizsäcker, nicht nur als ehemaliger deutscher Bundespräsident eine Autorität, sondern auch als protestantischer Christ, sagte in seiner Ansprache auf dem Deutschen Katholikentag in Aachen am 12. September 1986:

„Die Grundlagen unseres Bildes vom Menschen, von seiner Würde, seinen Rechten und Verantwortungen, seinem Zusammenleben sind allgemeines Erbe europäischer Kultur. Das, was wir westlich nennen, ist nicht amerikanisch, sondern europäisch. Auch das, was die Amerikaner westlich macht, ist europäisch. Ihre Freiheitsidee wurzelt in unseren europäischen Gedanken. Darin sind wir ihnen unverbrüchlich verbunden, genauer gesagt: sie mit uns. Von der anderen Großmacht, der Sowjetunion, trennt uns anderes und mehr: Uns unterscheidet nicht nur ihre Weltmachtposition, sondern auch ihre politische Kultur. Ich meine damit nur das System, nicht das russische Volk mit seiner Gefühlswelt und Seelenstärke; es hat eine tiefe Glaubenskraft und eine große, in Europa beheimatete Literatur. Grenzen mögen uns trennen. Es ist aber unser Menschenbild, unsere gemeinsame europäische Wurzel und Zukunft, die uns drängen, Grenzen nicht immer wieder in Frage zu stellen, sie nicht streitig zu machen, sie nicht verschieben zu wollen, sondern ihnen ihre Feindseligkeit, ihre Starre, ihren trennenden Charakter für die Menschen zu nehmen.“

Und weiter:
„Gesellschaftliche Systeme trennen uns in Europa. Politische Grenzen sind zu respektieren, aber authentisch im Sinne kultureller Identität sind sie nicht. Den Sinn für die gemeinsame Kultur zu bewahren, das ist für uns in Europa entscheidend, damit wir uns nicht ganz an trennende politische Systeme verlieren. Kultur ist in Europa kein Vorbehaltsgut des Westens oder des Ostens, sondern sie ist eine Sache des Gebens und Nehmens, der gegenseitigen Bereicherung.“

Meine Erfahrungen sind die Erfahrungen eines Europäers, der jahrelang in der Hitler- und in der Stalinhölle gelebt und diese überlebt hat. Diese Erfahrungen haben mich überzeugt, dass die Menschen gezwungen sind, sich in gewissem Sinne anzupassen. Aber wenn wir diese gemeinsame Hierarchie der Werte, der geistigen Werte, bewahren wollen, gibt es keine Verfolgung, keine Macht von Kanonen und Panzern und keine andere Macht, die uns dazu bringen kann, unsere eigene Geschichte, unsere Gesinnung und unser Bewusstsein zu verraten.

Mehrere Völker Mittel- und Osteuropas haben trotz der Isolation entschieden: Wir wollen in Europa bleiben. Diese Völker haben sich von dem Kontinent Europa und von dem abendländischen Erbe nie geistig losgelöst, weil sie ihre eigene Identität bewahren wollten. In diesem Sinne kann man sagen, dass sich die Polen, die Ungarn, die Tschechen, auch die Balten, mit der europäischen Teilung nach Jalta und Potsdam nicht abgefunden haben, obwohl sie ihre Ablehnung längere Zeit nur indirekt äußern konnten. Die Teilung bedeutete nämlich für diese Völker das Aufzwingen eines Wertsystems, das ihrer eigenen Identität fremd war.

Unsere Aufgabe unter den veränderten Bedingungen ist es, sich unserer Kultur bewusst zu werden, unsere gemeinsame Kultur zu bewahren, zu entwickeln, zu bereichern. Das war schon früher – wenn auch in begrenztem Maße – über alle bestehenden Grenzen und ideologischen Gegensätze hinweg möglich. Unsere gemeinsame erlebte – oft schmerzlich erlebte – Geschichte kann uns in eine gemeinsame, bewusst gemeinsam angestrebte Zukunft führen. Es gilt, die historischen, kulturellen und menschlichen Gemeinsamkeiten in ganz Europa zu stärken.

Gesellschaftliche Systeme und politische Grenzen trennten lange unser gemeinsames Europa. Sie konnten jedoch unsere kulturelle europäische Identität nicht zerstören. Die Europäer des 21. Jahrhunderts erwarten ein eindeutiges Nein zu Hassgefühlen. Sie erwarten Freiheit, Frieden. Im christlichen Abendland wissen wir, dass Frieden untrennbar mit der Freiheit des Individuums verbunden ist. Daher gibt es also keinen wahren Frieden ohne Achtung der Menschenwürde, ohne praktische Anerkennung und Realisierung der Menschenrechte, ohne Erziehung unserer Kinder im Geist der Toleranz und der Demokratie, voller Achtung der Andersdenkenden.

Papst Johannes Paul II. hat im Oktober 1988 – also unmittelbar vor der politischen Wende – in seiner Rede vor dem Europäischen Parlament in Straßburg von der Zukunft Europas gesprochen:

„Die vereinigten europäischen Völker werden die Vorherrschaft eines Volkes oder einer Kultur über andere nicht zulassen, sie werden aber das gleiche Recht für alle unterstützen und sich gegenseitig durch ihre Verschiedenheit bereichern. Die Reiche der Vergangenheit, die versuchten, ihre Herrschaft auf Gewalt und Assimilation zu gründen, sind alle gescheitert. Euer Europa wird das des freien Zusammenschlusses aller seiner Völker und des Zusammenlegens der mannigfaltigen Reichtümer seiner Verschiedenheit sein. Andere Völker werden sich bestimmt denjenigen anschließen können, die heute hier vertreten sind. Als Oberhirte der Universalkirche, der aus Osteuropa kommt und der das Verlangen der slawischen Völker kennt – dieser anderen Lunge unserer europäischen Heimat – spreche ich den Wunsch aus, dass Europa – sich in letzter Instanz freie Institutionen gebend – eines Tages sich zu den Dimensionen ausbreiten könnte, die ihm von der Geographie und der Geschichte gegeben wurden. Wie sollte ich das nicht wünschen, da die vom christlichen Glauben beseelte Kultur die Geschichte aller Völker unseres einzigen Europa tief gezeichnet hat – die Geschichte der Griechen, der Römer, der Germanen und der Slaven, trotz aller Schicksalsschläge und gegensätzlicher sozialer und ideologischer Systeme.“

Was Europa in den Jahrhunderten der Geschichte hervorgebracht hat, muss nun geistig von Europa überarbeitet werden – behauptete seinerzeit Karl Jaspers. In dem jahrtausendealten Wesen Europas liegt die Chance, in der gegenwärtigen Weltsituation diese Bewegung zu neuer Schöpfung fortzusetzen. Der Weg in die europäische Zukunft führt nicht zuletzt über die Rückbesinnung auf die Ursprünge der abendländischen Zivilisation. Die Quelle der treibenden Kraft unseres Kontinents liegt in der Antike, genauso – um ein offensichtliches Beispiel vorzuführen – wie das heute mit Erfolg gültige Rechtssystem direkt auf der römischen Rechtssprechung basiert. Um diese Quelle zu unserem gemeinsamen Vorteil richtig ausschöpfen zu können, ist eine Brücke notwendig, die die Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet – und eben hier leistet die klassische Philologie ihren Beitrag, der vor dem Hintergrund des von mir soeben Vorgetragenen höchste Anerkennung verdient.

Anmerkung:
1) H. Muszynski, Europa ducha – Europa des Geistes. Gniezno 2002. S.10-11