Julian Nida-Rümelin – Zur Aktualität der humanistischen Bildungsideale

Idee epistemischer Rationalität

Das Autarkie-Ideal der griechischen Klassik geht nun eine Verbindung ein mit dem zweiten Element des Humanismus. Ich möchte dieses Element die Idee epistemischer Rationalität nennen, und die wunderbarste Quelle für diese Idee scheint mir der Theaitetos-Dialog von Platon zu sein.5 In diesem Dialog wird die grundlegende Frage behandelt, was eigentlich als Wissen gelten kann. Zuerst werden die Gegner in den Blick genommen, nämlich die verschiedenen sophistischen Wissens-Theorien. Für diese ist Wissen Macht, d.h. als Wissen gilt, was nützlich ist. Platon stellt diese Positionen zwar dar, weist sie aber zurück und schließt eine Argumentation an, die belegen soll, dass Wissen zudem nicht lediglich wahre Meinung ist. Ich möchte Ihnen diese Überlegung an einem Beispiel aus unserer Zeit verdeutlichen:6 Stellen Sie sich vor, Sie nennen mir heute eine Reihe von zufällig gewählten Zahlen und behaupten, dies seien die Lottozahlen von morgen. Wie es der Teufel will, werden genau die Zahlen, die Sie prophezeit haben, bei der nächsten Ziehung gezogen. Dennoch nehme ich an, dass Sie mir zustimmen würden, dass Sie nicht wirklich gewusst haben, welches die Lottozahlen sein würden: Sie hatten eine Meinung, und diese war zudem wahr; aber dennoch handelte es sich dabei nicht um Wissen. Denn es fehlte die rationale Begründung, d.h. es fehlten die guten Gründe für diese Meinung. Dies ist eines der Ergebnisse des Theaitetos, nämlich dass Wissen wohlbegründete und wahre Meinung ist.

Diese Auffassung von Wissen macht natürlich nur Sinn, wenn es Wahrheit tatsächlich gibt. Wenn der aktuell in den Geisteswissenschaften – sowohl in den Vereinigten Staaten als auch zunehmend in Europa – modische Konstruktivismus zuträfe, dann gäbe es keine Wahrheit im strengen Sinne. Durch diese Auffassung würde sich in der Folge auch der Wissensbegriff verändern, so dass Wissen einen kulturrelativen und historisch bedingten Gehalt bekäme: Wissen wäre immer das, was in einem bestimmten kulturellen und historischen Kontext jeweils für richtig gehalten wird. Diese Begriffsverschiebung würde zu dem merkwürdigen Ergebnis führen, dass es dann vor Galileo Galilei Wissen war, dass wir in einem geozentrischen Kosmos leben. Danach war dieses Wissen offensichtlich keines mehr, sondern neues Wissen etablierte sich, nämlich das um das heliozentrische Weltbild. Diese beiden Weltbilder widersprechen sich. Der Platonische Wissensbegriff lässt nicht beide zugleich als Wissen zu, weil es dabei um logisch unverträgliche Auffassungen handelt. Ich glaube, Platon hat in diesem Punkt Recht. Zwar kann ich an dieser Stelle nicht genauer ausführen, wie genau man den Wahrheitsbegriff konzeptionalisieren sollte;7 aber klar ist, dass wir ohne einen substantiellen Wahrheitsbegriff nicht in dem Sinne von Wissen sprechen können, in dem wir das wollen.

Doch kehren wir zu dem für den Humanismus eigentlich relevanten Aspekt der Wohlbegründetheit zurück. Bei Wissen geht es um gute Gründe. Dass nicht allgemein klar ist, was damit gemeint ist, lässt sich daran zeigen, dass in vielen Feuilleton-Artikeln die Wissens- und die Informationsgesellschaft leichtfertig miteinander vermengt werden. In welcher von beiden befinden wir uns eigentlich? Information ist zunächst einmal eine bloße Mitteilung darüber, was der Fall ist. Information als Ware wird gegenwärtig dramatisch ab- und nicht aufgewertet, weil der Zugang zu Informationen sehr viel leichter geworden ist. Informationen kann man sich überall verschaffen und zwar so billig wie noch nie. Wegen dieses dramatischen Entwertungsprozesses kann die Behauptung nicht richtig sein, dass die eigentliche Ware der Zukunft Information sein wird. Das, worum es wirklich geht und gehen wird, ist vielmehr Wissen. D.h. woran uns gelegen sein sollte, ist, dass wir uns in diesem Überangebot an Informationen – man könnte sagen an Informationspartikeln – eine wohlbegründete Meinung bilden können, die, wenn alles gut läuft, auch noch wahr ist. Ich denke, dass auch in den Schulen die Einsicht, dass es uns um wirkliches Wissen zu tun sein muss – also um die Fähigkeit, sich selbst ein Urteil bilden zu können und eine wohlbegründete Meinung zu haben –, in den Mittelpunkt rücken sollte. Was wir brauchen ist Orientierungswissen.8 Im Vergleich dazu ist die Frage, wie viel wovon jeweils gewusst wird, nur insofern relevant ist, als man eine wohlbegründete Meinung nur vor dem Horizont bestimmter Kenntnisse entwickeln kann.

Die Suche nach Gründen und das Ringen um Begründung, d.h. epistemische Rationalität, ist meiner Ansicht nach der zweite zentrale Bestandteil humanistischen Denkens. So gibt es für die großen Denker der griechischen Klassik – im Gegensatz zu so gut wie allen Kulturen der damaligen Zeit und auch der Jahrhunderte danach – keine autoritativen Quellen. D.h. sie können sich auf keine heiligen Schriften oder Autoritäten anderer Art berufen, die ihnen sagen, was richtig und falsch ist. Insofern liegt bereits in der Antike eine Art von Autonomie der Wissenschaft und der Philosophie vor. Denn diese muss alle ihre Ressourcen der Begründung aus sich selbst schöpfen und kann nicht auf Überlieferungen wie die Ilias oder die Odyssee zurückgreifen. Dieser Beginn der Autonomie von Wissenschaft und Kunst gerinnt dann im Deutschen Grundgesetz Artikel 5 – eine der wenigen Verfassungen der Welt, die sich klar zur Freiheit von Wissenschaft, Kunst, Forschung und Lehre bekennt.

Die Auffassung, dass Gründe für die menschliche Lebensform eine tragende Rolle spielen, beschäftigt mich seit Jahren. Momentan wird sie von Seiten der Neurowissenschaften stark kritisiert. Allerdings halte ich es für falsch, wenn manche zeitgenössischen Naturwissenschaftler glauben, sie könnten die normative Vorstellung von Begründungen und Gründen entsorgen etwa über den Umweg neurowissenschaftlicher Forschungen. Denn lassen sich Gründe wirklich in neurowissenschaftlich analysierbare Ursachen, die auf bestimmten Ereignissen im neurologischen System beruhen, reduzieren? Ich halte das für einen großen Irrtum, denn wir werden niemals ohne die Vorstellung vom Menschen als begründendem Lebewesen auskommen können.9 Nicht ganz zufällig heißt deswegen der nächste große Kongress der deutschen Philosophen in München ‚Welt der Gründe‘.10