Necla Kelek über „das antike Vermächtnis für das moderne Europa“

Aus: Forum Classicum, 3/2006

Wir Europäer sind blind für unsere Werte – dieses zugespitzte Urteil ist, wenn man auf die letzten Jahrzehnte zurückschaut, sicher nicht ganz unberechtigt. Gerade hier aber gilt: Vergleich fördert Erkenntnis. Was wir an unseren freiheitlich-europäischen Werten haben und wie gefährdet sie heute sind, können uns oft am überzeugendsten diejenigen erklären, die, aufgrund ihrer Biographie, in unterschiedlichen Wertewelten zu Hause sind, in freiheitlich-europäischen ebenso wie in nicht-europäischen Traditionen und Verhaltensweisen.

Ein aktuelles Beispiel hierfür ist die türkischstämmige deutsche Soziologin Dr. Necla Kelek:
In ihren Büchern „Die fremde Braut“ (2005) und „Die verlorenen Söhne“ (2006) berichtet sie ungeschminkt und doch mit großer menschlicher Wärme „aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland“. Dabei führt sie ihren Lesern vor Augen, dass und warum europäische Werte es verdienen, verteidigt und gepflegt zu werden. Der Informationsgehalt der Fallberichte, die Hellsichtigkeit ihrer Kommentierung und der Mut, mit dem die Autorin dafür Anfeindungen auf sich nimmt, machen beide Bücher lesenswert für jeden, dem Europa als Wertegemeinschaft am Herzen liegt.

Autorin und Verlag haben unserem Verband die Vervielfältigung des folgenden Kapitels aus „Die verlorenen Söhne“ (S.196-200) zu nichtkommerzieller Verwendung gestattet.

H.M.


Von Philosophen und Propheten

Aphrodite, Athene, Demeter – meine griechischen Göttinnen standen mir auf dem Weg in die Freiheit zur Seite. Sie verkörperten Schönheit, Intelligenz und Wachstum und vermittelten mir ein anderes Frauenbild. Und sie öffneten mir das Tor zur griechischen Philosophie: zu den Fragen nach dem Ob, Warum, Wozu, zum Für und Wider, zum Argument.

Vor nicht langer Zeit schrieb mir ein junger türkischstämmiger Mann, dass er aus der elterlichen Wohnung geflohen sei, weil er es nicht mehr habe ertragen können, wie sein Vater über ihn bestimmen wolle. Er freute sich über seine neu gewonnene Freiheit, fürchtete sich aber gleichzeitig vor ihr. Wer eine Gemeinschaft verlässt, wer soziale Sicherheit aufgibt, sich von überlieferten Gewohnheiten verabschiedet und versucht, ein eigenständiges Ich zu werden, ist zunächst einsam. Und nichts fürchten – nicht nur türkische – Menschen so sehr wie die Einsamkeit. Man ist in einer türkischen Familie nie allein; allein sein gilt als schreckliches Schicksal.

Auch ich musste das Alleinsein erst lernen, musste mir selbst genug sein können. Mir blieb gar nichts anderes übrig. Ich hatte meine Familie verlassen, war in eine fremde Stadt gezogen – alles war neu, selbst ich war mir fremd. Ich musste das hermetische System der auf sich selbst bezogenen türkisch-muslimischen Gemeinschaft, das „Wir“, verlassen, um das Denken zu lernen. Dieser Schritt in die Freiheit ist schwer, man ist schutzlos, wenn man das Nest verlässt – wie ein kleiner Vogel, der seine ersten Flugkünste unter den Augen der Katze erprobt. Denn Freiheit kann auch kalt und gefährlich sein. Ich wusste: Die Freiheit fällt niemandem in den Schoß, sie will erobert werden. Und dafür musste ich lernen, viel lernen.


Meine Göttinnen

Dabei kam mir mein Studium wieder zu Hilfe, genauer gesagt ein dreisemestriges Projekt über griechische Mythologie. Ich entdeckte die Göttinnen, meine Göttinnen. Unsere Professorin Wiltrud Schwärzel trug mir und meinen Kommilitoninnen auf, zu Beginn der Betrachtungen über die Liebesgöttin Aphrodite symbolische Gegenstände mitzubringen, die für uns mit unserem „Frausein“ verbunden sind. Ich entschied mich nach einigem Überlegen für einen Spiegel und meine Perlenkette. Schönheit, Liebe, Sexualität werden im Islam als fitna, als Chaos verursachend und gefährlich angesehen. In den vorchristlichen Mythen entdeckte ich eine ganz andere, sinnliche Welt.

Schönheit, Anziehung und Verlockung gegenüber dem männlichen Geschlecht galten in der griechischen Mythologie als göttlich. Aphrodite, die Göttin der Schönheit, die erste aller Göttinnen des Olymp und älter als Zeus, wurde der Sage nach in einer Muschel aus Schaum geboren. Sie war mit Hephaistos verheiratet und hatte viele Liebhaber. Als ihr Seitensprung mit Ares, dem Kriegsgott, von den anderen Göttern entdeckt wurde, spottete einer: „Die Frauen hassen den Krieg, aber lieben den Sieger.“ Sie liebte Adonis, den Argonauten Butes, aber sie liebte auch Hermes und Poseidon und Anchises, mit dem sie Äneas zeugte. Eine Frau, die Ehebruch zum Vergnügen betrieb, wurde als Göttin verehrt und nicht gesteinigt? Diese Göttin gefiel mir.

Aber auch Athene, die Göttin der Weisheit, sagte mir zu. Eines Tages hatte der Göttervater Zeus starke Kopfschmerzen, und er bat seinen Sohn Hephaistos, Gott der Handwerker und Ehemann von Aphrodite, um Hilfe. Der aber war kein Arzt, sondern Schmied, und so fiel ihm nichts Besseres ein, als seinem Vater mit einer Axt den Kopf zu spalten. Dem Spalt entsprang Athene, die Lanze in der Hand und den Helm auf dem Kopf. Sowohl den Griechen wie auch den Römern galt sie als Sinnbild der Intelligenz, verfügte sie doch über die nötige List, den gewalttätigen Ares zu besiegen. Athene, eine „Kopfgeburt“, setzte Intelligenz gegen Gewalt ein. Auch das gefiel mir.

Demeter, die Göttin von Wachstum und Fruchtbarkeit, war eine Tochter von Kronos und Rhea (die erste Generation der Gottheiten), Schwester, aber auch Geliebte von Zeus, mit dem sie die Tochter Persephone hatte, die von Hades geraubt und in die Unterwelt geschafft wurde. Aus Trauer darüber weigerte sich Demeter, das Getreide weiterwachsen zu lassen. Zeus musste eingreifen, und er entschied, dass Persephone drei Monate im Jahr bei Hades und neun Monate bei Demeter verbringen sollte. Fortan streikte Demeter, wenn das Mädchen bei Hades war, und so entstand der Winter.


Der Ursprung Europas

Schönheit und Selbstbewusstsein, Intelligenz und Wachstum – jede einzelne meiner Göttinnen trat so anders auf als eine traditionelle Muslima, sie ließen mich neugierig werden. Ich wollte mehr wissen über die Welt, aus der sie kamen. Sie öffneten mir das Tor zu einer ganz anderen geistigen Landschaft als die, die ich bisher kannte: zur griechischen Philosophie. Sie ließ mich verstehen, warum Europa in der griechischen Antike geboren wurde. Sie lieferte die geistige Erbmasse, von der das abendländische Denken bis heute zehrt. Begriffe wie Prinzip, Element, Materie, Geist, Seele, Denkschulen wie Idealismus, Realismus, Skeptizismus, Materialismus, all das ist damals entstanden. Auch die Wissenschaft ist eine „Erfindung“ der Griechen. Es sei ihre Fähigkeit, jede einmal „gestellte Frage ins Prinzipielle zu wenden“, hat der deutsche Physiker Werner Heisenberg einst in einem Vortrag an den Griechen gerühmt.

Für die Griechen war es eine demokratische Tugend, im öffentlichen Diskurs über alle Dinge nachzudenken, nach dem Ob, dem Warum, dem Wozu zu fragen, mit Gründen und Gegengründen Stellung zu nehmen und so einen Überzeugungsprozess unter allen Betroffenen einzuleiten. Nur so – durch Prüfung, Erörterung, Beratung und Beurteilung von anstehenden Fragen im gemeinsamen Diskurs – glaubten die Griechen, das Bürgersein und das Handeln des Bürgers in der Polis im Sinne des Gemeinwohls sichern zu können. Wer sich mit ihrer Philosophie beschäftigt, lerne zu argumentieren und könne sich so, um noch einmal Werner Heisenberg zu zitieren, „immer wieder im Gebrauch des stärksten geistigen Werkzeugs üben, das abendländisches Denken hervorgebracht hat“.

Das Argument schließt den geistigen Respekt vor dem anderen, der anders denkt als ich, mit ein. Die Griechen waren immer offen für das Fremde. Sie waren Händler, sie konnten sich den vielen – orientalischen, ägyptischen, babylonischen und phrygischen – Einflüssen gar nicht entziehen. Auch ihr Götterhimmel war bevölkert von lauter Fremden, die aus allen Himmelsrichtungen dazustießen. Diese Fremden wurden aufgenommen, ihre intellektuelle Mitgift einverleibt und verarbeitet. Auch Europa, die unserem Kontinent den Namen gab, war eine von diesen Zugewanderten, eine phönizische Prinzessin aus dem Land des Purpurs, das dort lag, wo heute Syrien und der Libanon aneinander stoßen.

Als das Weltreich zerfiel, als die Griechen ihre politische Vorrangstellung verloren, wurden sie zu einer anderen, einer geistigen Macht, die sich bis nach Persien und China erstreckte. Ihre Stützpunkte waren die Bibliotheken. Die griechische Bibliothek in Alexandria beherbergte allein schon 700.000 Schriftrollen. Die Bücher wurden die neuen „Eroberer“, die neue Macht, die schon die Islamgelehrten im Reich Harun al-Rashids verunsichert hatten. Von jedem Manuskript der Welt wollten Alexander der Große und seine Nachfolger sich eine Abschrift besorgen, von den „Klassikern“ und den Ketzern. In ihrem Bildungsuniversum gab es Platz für alle Gedanken und Raum für Diskussion über das Für und Wider. Diese Offenheit gegenüber fremden Gedankenwelten machte die Bibliothek, dieses „Wunder an Welt“, in ihrem Universalismus zu einer wahren „Universität“, und das dreihundert Jahre vor Christus.

Die Griechen sahen sich immer auch als Verwalter, Bewahrer und Erben fremden Reichtums – und sie konnten dies, weil sie sich der eigenen kulturellen Maßstäbe bewusst waren. Wissenschaft und Erkenntnis, Philosophie und Denken, Kunst und Schönheit, unser Menschenbild und unsere Werte verdanken wir ihnen. Europa kommt aus Griechenland: Vernunft, das aus Zweifel, Fragen und Argumenten geborene Denken, und das zu gewissenhaftem, moralisch-sittlichem Handeln entscheidungsfähige Individuum waren und sind das antike Vermächtnis für das moderne Europa.

Es war eine so andere Welt, die sich mir damit eröffnete. Sie war frei von allen „Versiegelungen“, offen für Neues, sie lieferte mir das Rüstzeug, um von der Vormundschaft in die Freiheit zu gelangen.

Aus: Necla Kelek, Die verlorenen Söhne.© 2006 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln