Richard von Weizsäcker – Humanistische Bildung, Globalisierung und Europa

Die Rede in Auszügen

Es geht nicht um Stofffülle, um Anhäufung von Wissen, um ewig gültige Normen, sondern um das Modell, das den Ursprung unserer Kultur bildet, um die Experimente der Griechen mit den Grundbedingungen des Daseins: Was vermag der Mensch in Freiheit? Was ist die Bestimmung von Geist?

Wie nirgendwo sonst erfahren wir etwas von der Anschaulichkeit eines wilden Mythos für ein Volk, vom Ideal der Besonnenheit, der Sophrosyne, von der zerstörerischen Kraft einer Leidenschaft, die nicht von Vernunft kontrolliert ist, von Begierde und Furcht als den Hauptkrankheiten der Seele, von der Freiheit des Gewissens, vor der alle opportunen Anpassungen, alle feinen Rücksichten und Notwendigkeiten enden.

Humanistische Bildung ist nicht dazu da, unsere Probleme zu lösen, sondern sie sichtbar und verständlich zu machen. Humanistische Bildung ist kein absolutes, abzufragendes Kulturgut, sondern ein Weg, sich im Leben zu orientieren.

Deshalb bin ich mit Überzeugung und Freude Ihr Gast, danke Ihnen für die hohe Auszeichnung und bin mit allen meinen Kräften an Ihrer Seite, damit Sie den Jungen helfen mögen, an dieser Erfahrung teilzuhaben.

Dies bin ich umso mehr, als ich mir der ständig gewachsenen Schwierigkeiten bewusst bin, die sich der humanistischen Ausbildung in den Weg stellen. Dabei denke ich nicht nur an eine Bildungspolitik, die so wenig Selbstbewusstsein besitzt, dass sie manchmal den Eindruck erweckt, als liefe sie nur noch den Märkten hinterher, denen es um Englisch, Technik und Informatik, um Börsenkunde und gerade noch um so viel Mathematik geht, damit man die Wahrscheinlichkeitsrechnungen bei den multiple-choice-Prüfungen zum eigenen Vorteil nutzen kann. Kein Wunder, dass daraufhin einige Generalisten dafür plädieren, so etwas wie das Latinum dem Sperrmüll unserer Gesellschaft zu überantworten.

Selbstverständlich gibt es auch sehr ernsthafte Gründe der Auseinandersetzung, zunächst die Frage nach einer Konzentration des Stoffs. Kultur und Geschichte, Wissenschaft und Technik wachsen immer weiter. Die Welt des Geistes vermehrt sich unaufhörlich. Mehr und mehr entrückt die Vergangenheit. Wie können wir die Fülle der Überlieferung noch bewältigen? Müssen wir uns nicht ständig von neuem auf zeitgemäße Einschränkung und Konzentration besinnen?

Oder: Das Latein habe eine disziplinierende Kraft für den Geist – aber wird sie nicht durch die exakten Naturwissenschaften ersetzt?

Der griechische Geist hat einen beherrschenden Eingang in die klassische deutsche Dichtung gefunden. Erhalten wir nicht durch Schillers Balladen vom Tyrannen Dionysios, von den Kranichen des Ibykos, vom Ring des Polykrates ein ebenbürtiges Bild der antiken Menschlichkeit, aber ohne Sprachschwierigkeiten?

Und schließlich, je mehr die Welt zusammenwächst, desto klarer wird die Einsicht in die Gleichberechtigung der außereuropäischen mit unserer antiken Kultur. Sollten wir nicht auf dem Weg zu einer immer einheitlicheren Weltzivilisation in unserer Bildungspolitik einerseits breiter und andererseits im Hinblick auf ein überliefertes humanistisch-antikes Monopoldenken bescheidener werden?

Solchen Fragen können wir nicht ausweichen. Aber warum auch? Es kann uns doch im Ernst nicht darum gehen, im globalisierten Zeitalter der Telekommunikation nur qualifizierte Funktionäre der technischen Welt und des Kapitalhandels auszubilden. Die wissenschaftlich-technischen Fortschritte und die wachsende Freiheit der Märkte zu bejahen, heißt nun erst recht, ihnen nicht auch noch die Herrschaft über das Menschsein zuzumuten, die sie gar nicht beanspruchen, sondern sich am zivilisatorischen Prozess und einer ethischen Entwicklung durch unsere Erziehung zu beteiligen, die die globalen Fortschritte in neuem und verstärktem Maß braucht. Es geht um eine planetarische Anstrengung des Geistes. Wir kennen von den Religionen den griechischen Begriff der Ökumene, der „bewohnten (Erde)“. Zu ihr gehört nicht nur das Gebot der Achtung und des Friedens untereinander, sondern die gemeinsame Aufgabe eines Ethos für die Welt.

Dies kann aber nicht durch eine allgemeine Nivellierung bestehender Überlieferungen und Bindungen gelingen. Nicht eine standpunktlose Liberalisierung, sondern eine Kooperation aufgrund von gefestigten Überzeugungen hilft voran. Wir melden keine absoluten Wahr-heiten an, wenn wir unsere antike Kultur pflegen. Jeder muss lernen, den anderen in der Tiefe seiner Kultur und seines Glaubens zu erkennen, ernst zu nehmen und zu bestätigen. Ein brauchbarer Partner für andere sind wir dafür nur auf eigenem gesicherten Grund.

Auch für die historischen Veränderungen auf unserem europäischen Kontinent gewinnen die gemeinsamen Überlieferungen eine neue Aktualität. Gewiss sprechen wir nicht mehr wie früher zusammen lateinisch. Dennoch sind es die alten Sprachen mit ihrer Kultur, die uns verbinden. Die Europäische Union steht vor einer Erweiterung von heute fünfzehn auf eines Tages bis zu siebenundzwanzig Mitglieder. In Wahrheit ist dies jedoch keine Erweiterung, sondern eine Vollendung im Kreise der Völker mit gemeinsamem Erbe. Sollen wir nur auf den Euro setzen und dieses Erbe vergessen? Würde das unsere Stellung in der Welt erleichtern?

Die Rede als ganze ist zugänglich in: Forum Classicum. Heft 2/1998. S. 68 ff.