Akropolis von Athen, Spiegel unserer europäischen Identität

Der französische Staatspräsident, Emmanuel Macron, hielt am 7. September 2017 in Athen eine denkwürdige Rede, in der er die grundlegende Bedeutung der griechischen Geisteskultur für die innere Stabilisierung unserer Demokratien und für den Zusammenhalt Europas betonte.

Diese Rede hielt er unter freiem Himmel gegenüber der Akropolis, auf dem Hügel Pnyx, wo im Altertum die Volksversammlungen stattfanden.

Die Worte des Staatspräsidenten erscheinen umso bemerkenswerter, als ihr Gehalt offenbar bereits in die Tat umgesetzt wird: Macron hat die unter seinem Vorgänger betriebene Schwächung des Faches Griechisch (und anderer als „elitär“ apostrophierter Fächer) inzwischen rückgängig gemacht!

Hier zwei Auszüge aus dieser Rede:

Emmanuel Macron

Akropolis von Athen, Spiegel unserer europäischen Identität

… Ich kann mich aber nicht auf die Gefühle beschränken, die sich an diesem historischen Ort regen, so stark sie auch sein mögen. Sondern ich möchte auf das hören, was diese Stätten zu sagen haben. Da sie uns eine Verpflichtung auferlegen, weil gerade hier die moderne Gestalt des Staates erfunden wurde, weil gerade hier die Stadt Athen geduldig durch die Selbstbestimmung des Volkes die Selbstbestimmung über ihr Schicksal herausbildete, müssen wir uns ohne Beschönigung fragen: Was haben wir Europäer mit unserer Selbstbestimmung gemacht?

Weil man gerade hier das Wagnis dieser Demokratie eingegangen ist, die dem Volk die Regierung des Volkes anvertraut, in der Überzeugung, dass die größere Zahl besser ist als die geringe Zahl, um ein respektables Gesetz zu erlassen, sollten wir uns fragen: Was haben nun wir mit der Demokratie gemacht?

Und diese Worte, die Perikles, nicht weit von hier, zu Ehren der im Kampf gefallenen Soldaten sprach – lasst uns auf die noch immer starke Botschaft dieser Worte hören: „Die Freiheit“, sagte er, „ist unsere Regel bei der Regierung der Republik und im täglichen Umgang miteinander. Misstrauen hat keinen Platz.“ – Aber wir, Europäer, schenken wir uns noch Vertrauen?

Auf der Pnyx schätzte man das freie Wort, die Debatte, ja den Meinungsstreit. Auch ich will euch eine Rede der Wahrheit halten, eine Rede ohne Umschweife: Im Europa von heute sind die Selbstbestimmung, die Demokratie und das Vertrauen in Gefahr. …

Wir Europäer teilen Geschichte und Schicksal. Weil wir den Lauf dieses Weges wiederfinden werden, können wir das Vertrauen neu aufbauen. Schaut auf den Ort, wo wir sind: Schaut in der anbrechenden Nacht auf den Hügel hinter mir, die Akropolis. Wer ihr auch sein mögt, welches Alter ihr auch habt, welche Nationalität, welche Herkunft, sagt mir, Bürger Europas, ob das Wunder dieses Hügels, diese Säulen des Parthenon, diese Silhouette des Erechtheion und seiner Karyatiden in euch nicht das Empfinden weckt, dass hier etwas geboren wurde, das euch betrifft, das zu euch gehört, das zu euch spricht!

 

Ja, die Akropolis von Athen ist ein Spiegel unserer europäischen Identität, wir erkennen uns darin wieder, wir lesen darin unser gemeinsames Schicksal, und dieser Tempel war den antiken Göttern errichtet, aber heute sind die Glaubensinhalte, die ihn entstehen ließen, verschwunden, und dennoch ist diese Macht in unserem Denken gegenwärtig. Wir spüren noch immer ihr kaum fassbares Wirken in uns.

Es gibt, wie André Malraux vor fast sechzig Jahren an diesem Ort hier sagte, es gibt ein verborgenes Griechenland im Herzen aller Menschen der westlichen Welt. Dieses geheime Griechenland ist das, was über uns hinausreicht, was bewirkt, dass, wenn wir uns erlauben, uns in unsere kleinlichen europäischen Debatten und in diese Bürgerkriege zu verfangen, die ich vorhin erwähnte, – dass wir nur einige Tausend Kilometer weit in der Ferne sein müssen, um einen Europäer zu erkennen, ein Bild, das uns an Europa erinnert, ein Gefühl, das uns verbindet, einen Geruch, eine Farbe, eine Lektüre, die bewirkt, dass wir uns wieder europäisch fühlen.

Aus dem Französischen von H. Meißner
Das Perikles-Zitat geht auf Thukydides zurück (II, 37,2).
Fundort der Originalfassung dieser Rede:

http://www.elysee.fr/declarations/article/discours-du-president-de-la-republique-emmanuel-macron-a-la-pnyx-athenes-le-jeudi-7-septembre-201/